Full text: Deutsches Lesebuch für die weibliche Jugend

VIII — 
liche Jugend verwendbar. Altherkömmliche Lesebücher für Mädchen und 
auch neuere, welche mit einigen Ergänzungen (hauswirtschaftliche!) dieselben 
Lesestoffe in nur etwas veränderter Reihenfolge brachten, waͤren auf die 
Dauer nicht reizvoll und anregend genug für die erwachsene Jugend. 
Der in den Oberklassen der höheren Mädchenschule übliche deutsche 
Unterricht mit seiner ästhetisch-litterarischen Tendenz, zu welcher unsere 
Lehrerinnen und Schülerinnen anfangs stark hinneigten, war nach unserer 
Überzeugung hier zu vermeiden. Nicht jede anscheinend höhere Stufe des 
Unterrichts ist ein wirklicher Fortschritt. Leicht genommen, konnte diese 
Nachahmung des höheren Mädchenschul-Unterrichts nur zu Dünkel und 
Halbbildung führen, ernst genommen, zur Vorbereitung für das Lehrerinnen⸗ 
Seminar — nicht für das Leben. Die Grundtendenz unserer 
Jugenderziehung aber sollte eine im besten Sinne reale sein. 
Uns sollte der deutsche Unterricht das Mittel bieten, den geistigen Horizont 
von erwachsenen Schülerinnen aller Volkskreise — je nach der Stufe 
ihrer Vorbildung — zu erweitern, ihre Teilnahme und ihr Verständnis 
für die großen Errungenschaften der menschlichen Kultur zu wecken, inmitten 
unserer sozialen Gährung die Lebensauffassung der jungen Generation zu 
klären und ihren Charakter zu festigen. Es wäre eine Kapitel für sich, 
den tiefen Einfluß weiblicher Anschauungen auf die Gestaltung unserer 
sozialen Zustände nachzuweisen. 
Zu diesem Zweck mußten neue Bildungsstoffe aus einer vielseitigen 
und weit zerstreuten Litteratur herausgefunden werden. Ein gesunder 
Hauch des modernen Lebens sollte auch in die Schule dringen. Nicht 
um flüchtiger Tagesfragen willen, die nicht in den Rahmen einer Schule 
hineingehören, sondern um ernster Lebensfragen willen, die unsere Zeit 
bewegen, und vor welchen sich auch der weibliche Geist nicht verschließen 
soll, weil das Geschick der Frau eng mit ihnen zusammenhängt. Die 
Frau ist heutzutage mehr wie je in den Kampf ums Dasein hineingezogen; 
ästhetische Bildungselemente allein können ihr nicht mehr als Rüstzeug 
genügen. 
Gleichwohl haben wir bei allem Realismus dem idealen Sinn der 
Jugend vollauf Rechnung zu tragen gesucht. Es wird sich in unserem 
Buche schwerlich ein realer Stoff finden lassen, der nicht in seinem tieferen 
Gehalt poetisch verklärt worden ist. Unser köstlichstes Besitztum, die 
Meisterwerke unserer klassischen Litteratur, haben wir allerdings — in 
der Ehrfurcht, die ihnen gebührt — nur den Weihestunden des deutschen 
Unterrichts vorbehalten. 
Auch in der Anordnung sind wir weder einer abstrakten Theorie, 
noch irgend einem herkömmlichen Schema gefolgt. Nach dem ersten 
Jahrzehnt lag bereits eine stattliche Sammlung erprobter und nach ihrer 
Eigenart wohlgeordneter Lesestoffe vor uns. Pädagogische Freunde rieten 
damals zur Herausgabe des reichen Materials. Wir selbst zögerten. Das 
bestgewählte Material, die erlesensten Bausteine — waren sie schon ein 
Bau? Der lebendige Kontakt mit unseren Schülerinnen, Beobachtungen 
und Erfahrungen leiteten uns allmählich zu einem Aufbau nicht gewohnter 
Art. An wie vielen Stoffen sich unsere Schülerinnen auch sonst erfreut
	        
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