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macht er sich als Ladengehilfe nützlich. Ein Bruder des Erstgenannten
ist Geistlicher. Der Organist der Domkirche zu Reykjavik war frühe
Grobschmied. Im Hotel erschien einer, der Daunen verkaufte; ers
nachhen erfuhren wir, daß wir einen nicht unbekannten lyrischen Dicht
vor uns gehabt hatten. Ferner: alle Geistlichen draußen im Lande
sind Bauern — von ihrem geringen Einkommen können sie nicht leben
und einige davon zeichnen sich als Viehzüchter besonders aus. Die
idländischen Gelehrten, fo auch die Dozenten an der Kopenhagener Unn
versität, sind, ebensowohl wie die Träger der höchsten politischen und
richterlichen Ämter, als Bauernsöhne aufgewachsen und mit der Land⸗
wirtschaft praktisch bekannt.
Für die Heiraten dürften wohl verschwindend geringe sozial
Hemmnisse in Betracht kommen. Und im alltäglichen Verkehr wir
der Fremde überrascht und erfreut von einer Gleichwertung aller, di
man Brüderlichkeit nennen möchte. So stehen auch die Dienstboten au
einem Hofe sehr wenig unter der Herrschaft: ob man von einer Mag
oder der Bäuerin bedient werde, war oft aus ihrem ganzen Gehabe
nicht zu erraten, wie denn auch Verwandte der Familie häufig hall
als Hausfreunde, halb als dienende Wesen der Wirtschaft angehören
Mil diesem Fehlen der Standesunterschiede hängt aber eng
sammen, daß es fast keine Bildungsgrenzen giebt. Die Begriffe gebildet
und „ungebildet“ erscheinen uns kaum entbehrlich, um einen gesellschafl
lichen Gegensatz zu bezeichnen. Es ist bekannt, daß schon in Frankreich
in England die nächst vergleichbaren Ausdrücke einen anderen Inhal
haben. In Island vollends kann man mit „gebildet“ und „ungebildet
die Sprache besitzt analoge Worte) nur individuelle Eigenschaften, it
mehrfacher Abstufung, bezeichnen: es giebt keinen Stand, der sich al
„ungebildet“ von einem andern abhöbe, — heute so wenig wie im i⸗
ländischen oder germanischen Altertum.
Eine greifbare Bildungsgrenze giebt es: wer die Lateinschule i
Reykjavik durchlaufen hat, erhält in dem Titel stüdent ein Prädikal
das sich nicht auf ein Amt, sondern nur auf den Bildungsgang gründel
Wemn unicht später irgend ein Amtstitel zufällt, der ist bis zu seinen
Ende und noch auf dem Grabstein stüdent.) Aber die stüdentar sin
ebensowenig die alleinigen Inhaber der Bildung wie bei uns di
doctores! Als ich bei dem liebenswürdigen Alt-⸗Rektor der Late inschul
mit einem Lehrer und einem Redakteur bei einem Glase Wein sah
meldete sich ein alter Bauer, der eben in Reykjavik zu Besuch war: q
wurde herein gebeten, setzte sich zu uns vier stüdentar und nahm n
Würde und völliger Unbefangenheit an unserer Unterhaltung teil: wedel
ihm noch uns andern kam der Gedanke, daß sich der Kreis um einel
weniger Gebildeten erweitert habe. Die zwei Männer, die sich bei den
Konzert in Reykjavik an der Kirchthür aufgepflanzt hatten, um di