Full text: Deutsches Lesebuch für die weibliche Jugend

—8 
Einteilung ist aus mancherlei Gründen innerhalb eines Kreises von Er— 
wachsenen nicht thunlich.) 
Dennoch wird der Gesamteindruck des Buches vielleicht zu der 
Annahme führen, als hätten wir ein zu hohes Bildungs-Niveau der 
Schülerinnen vorausgesetzt. Es muß deshalb betont werden, in wie er— 
freulicher Weise sich die Durchschnittsbildung der weiblichen Jugend seit 
zwei Jahrzehnten gehoben hat. Diesem unverkennbaren Fortschritt mußten 
wir im Hinblick auf die weitere Entwickelung des weiblichen Fortbildungs— 
schulwesens zu entsprechen suchen. Dabei ist ein besonderer Umstand noch 
in Fortbildungsschulen wie in vielen ähnlichen Anstalten zu berücksichtigen. 
Die geistige Reife der Schülerinnen darf nicht nach dem oft geringen 
Umfang ihres schulmäßigen Wissens beurteilt werden. Je nach der 
Stufe der intellektuellen Entwickelung muß die Lektüre gehalten werden, 
um vor allem lebendiges Interesse zu erregen. Zur Ergänzung des 
Wissens genügt oft der Hinweis der Lehrerin auf ein Hilfsbuch und eine 
Repetition geschichtlicher, geographischer Einzelheiten u. s. w, die meist nur 
dem Gedächtnis entschlüpft waren. 
Auch mag es widerspruchsvoll erscheinen, daß wir ein so entschiedenes 
Gewicht auf neue Lesestoffe gelegt und dennoch manche ältere in Poesie 
und Prosa aufgenommen haben. Dabei leitete uns eine psychologische 
und eine pädagogische Beobachtung. Man geht auf Reisen, man sucht 
fremde Länder und Menschen auf, um sich an ganz neuen Eindrücken zu 
bereichern, an ihnen zu lernen. Und mitten in der fremden Umgebung 
begegnet uns plötzlich ein Bekannter: wie wohlthuend heimelt uns das 
unerwartete Zusammentreffen an. So gereichte es unseren Schülerinnen 
zu besonderer Freude, in völlig ungeahntem Zusammenhange — mit einem 
volkswirtschaftlichen Thema etwa — den „Schatzgräber“ zu entdecken. Wie 
anders lernen sie ihn, bei geschickter Behandlung, jetzt verstehen! 
Und sollte es vielleicht Bedenken erregen, daß wir hin und wieder 
einen englischen oder französischen Schriftsteller benutzt haben, sowie Beiträge, 
die den Vorzügen anderer Nationen in so hohem Maße gerecht werden, 
wie z. B. der Aufsatz Heinrich v. Sybels „Was wir von den Franzosen 
lernen können“ und K. Hillebrands „Familie und Sitte in Frankreich“? 
Freilich giebt es eine Art von Patriotismus, der jeden Vergleich 
mit anderen Völkern ausschließt, im Vollbewußtsein der eigenen Unüber— 
trefflichkeit Gar manche unserer Schul-Lesebücher tragen das Gepräge eines 
solchen Chauvinismus. Wir haben indes nicht gefunden, daß er auf unsere 
Jugend einen innerlich gesunden Einfluß geübt hat. Die gedächtnismäßige 
Aneignung patriotischer Gedichte in allzu reicher Fülle stumpft den jugend— 
lichen Geist eher ab. „Die Nationalerziehung geschieht nicht durch 
künstliche Mittel, sondern am mächtigsten durch die Geschichte 
der Gegenwart, in welcher die Jugend aufwächst und durch die 
geistige Atmosphäre, die sich von selbst aus den Gesinnungen 
und Handlungen des älteren Geschlechts erzeugt.“ (Adolf Trendelen— 
burg.) Diese Atmosphäre und der Pulsschlag der Geschichte werden hoffent— 
lich in unserem Buche nicht vermißt werden. Die Liebe zum Vaterlande 
muß, nach unserer Überzeugung, so unerschütterlich fest in den Herzen der
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.