Full text: Deutsches Lesebuch für die weibliche Jugend

238 
vorgenommen, nur zwei Stunden zu bleiben, weil sie vor der Abreise 
noch mancherlei zu ordnen hatte. Sie blieb indes länger als vier 
Sunden dort und äußerte sich voll Begeisterung über die neue Er⸗ 
ziehungsmethode, die sie nun in der Praxis kennen gelernt hatte. 
Der Besuch hatte die weittragendsten Folgen. Die Königin, von der 
Wahrheit der Sache erfüllt, riß ihre Umgebung mit sich fort. So 
erfolgte der Durchbruch der neuen Lehre. Nicolovius und 
der Freiherr von Altenstein sorgten nun für die fernere Verbreitung 
der Ideen Pestalozzis durch Männer, welche später die Stützen der 
deutschen Pädagogik und die Leuchten einer besseren Zeit gewor— 
den sind. 
Und Pestalozzi selbst? Er vor allen erkannte schon die hohe 
Bedeutung der Königin Luise für das Volksschulwesen. Er fühlte 
sich, wie er sagte, in dem Gedanken begeistert, daß seinem Werke 
auf das Anklopfen der Königin das Tor der Zukunft 
durch den König aufgetan worden. 
„Mein Vater im Himmel,“ schrieb er an Nicolovius, „der mein 
Werk rettet, hat es jetzt auch dem Herzen Deines Königs nahe ge— 
bracht. Ich hoffte mein Leben hindurch auf einen König, dem die 
Kraft des Menschenherzens gegeben wäre, aus welcher das Heil der 
Menschen kommi. Ich fand ihn nicht. Seine Zeit war noch nicht 
da; jetzt ist sie gekommen. Er ist da, er ist gefunden. Du hast ihn 
gefunden, er hat Dich gefunden, und Du machst jetzt, daß auch ich 
ihn finde.“ 
Die Königin Luise aber war — nach dem Zeugnis eines da⸗— 
maligen Zeitgenossen — „das belebende Prinzip dieser Idee, von 
welcher seitdem alle Bestrebungen auf dem Gebiete der wissenschaft— 
lichen und Volksbildung getragen worden sind 
Beim Tode Friedrich Wilhelms III. standen 6 Universitüten, 
120 Gymnasien, eine noch größere Anzahl Real⸗ und höhere Bür— 
gerschulen und gegen 30000 Volksschulen in voller Wirksamkeit. 
Jeder sechste Mensch in Preußen war ein Schulkind. 
Ebenso warm war das Interesse der seltenen Frau für weib— 
liche Bildung. Von einer bloßen Mode⸗ und Scheinbildung der 
Fraͤuen hielt die Königin Luise blutwenig. Ihrem klaren und tiefen 
Geiste entging es nicht, wie ihre Freundin Frau von Berg sagt, daß 
„das Wissen der Frauen wohlgeordnet und nur auf einen Zweck hin⸗ 
zielend, der Veredlung und Verschönerung ihres Charakters und 
ihren Verhältnissen als Gattin, Mutter und Staatsbürgerin allein 
dienen müsse“. 
Zwar war es ihr nicht mehr vergönnt, ihre Absichten und Pläne 
für weibliche Bildung und Erziehung unmittelbar durchzuführen. 
Ihre Wünsche aber als ein heiliges Vermächtnis ehrend, vollzog der
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.