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Gedichten, auch aus viel späterer Zeit, die Trauer um ihre heim—
gegangenen Lieben durch.
Mit des Vaters Tode schließt Annettens Jugendzeit, und auch
in ihrem äußeren Leben trat jetzt eine eingreifende Änderung ein.
Das Gut Hülshoff, der Stammsitz der Familie, wurde von dem
ältesten Sohne übernommen; die verwitwete Freifrau siedelte mit
ihren beiden Töchtern nach dem stillen, bäuerlichen Rüschhaus
über. Auch hier beschäftigte sich Annette vorzugsweise mit Lektüre,
mit Musik, von Zeit zu Zeit auch mit eigenen poetischen Arbeiten.
Einen stärkeren Einfluß als die deutschen Dichter jener Zeit übten
die großen englischen Dichter und Schriftsteller auf sie aus, wie Lord
Byron und Washington Irving, besonders aber war es Walter
Scott, zu dem eine innere Verwandtschaft sie hinzog. Begeistert und
erhoben durch die Beschäftigung mit diesen Meisterwerken, faßte sie
den Mut, auch ihr eigenes Talent endlich einmal an Dichtungen
größeren Stils zu prüfen, und so entstanden die großen epischen Ge—
dichte: Das Hospiz aufdem Großen St. Bernhard“, „Des
Arztes Vermächtnis“ und „Die Schlacht im Loener
Bruch“, die uns Annette auf der Höhe ihrer Kraft zeigen. „Des
Arztes Vermächtnis“ ist eine psychologische Studie von fast unheim⸗
licher Schürfe der Beobachtung, „Die Schlacht im Loener Bruch“
ein Schlachtgemälde von packender Kraft und Energie der Darstel—
lung. Von vielen maßgebenden Persönlichkeiten, namentlich von
Männern, ist „Die Schlacht im Loener Bruch“ für Annettens Mei—
sterwerk erklärt worden. „Das Gedicht“, sagt Scherr, „darf sich keck⸗
lich zu dem besten stellen, was im ganzen Umfange der Weltliteratur
von Wehr und Waffen singt und sagt.“
Bei dem großen Publikum aber, insbesondere bei der Frauen—
welt, hat das dritte ihrer epischen Gedichte „Das Hospiz auf dem
großen St Bernhard“ den meisten Beifall gefunden. Mit der Schil—
derung eines winterlichen Sonnenuntergangs in den Alpen hebt das
Gedicht an: Die Sonne hat den Lauf vollbracht,
Schon spannt sie aus ihr Wolkenzelt;
So manche Trän' hat sie bewacht,
So manchem Lächeln sich gesellt;
Um Sel'ge hat ihr Strahl gekräuselt,
Wo süß versteckt die Laube säuselt,
Und hat die Totenbahre auch
Gesegnet mit dem frommen Hauch;
Nur einmal ihres Schleiers Saum
Noch gleitet um der Alpen Schaum;
Und in des Schneegestäubes Flaum,
Das an Sankt Bernhards Klippe hängt,
Der matte Hauch sich flimmernd fängt.“