Full text: Lesebuch für Fortbildungsschulen

19 
der Spatzenfraß immer daran schuld. Der Hausfreund ließ es dahingestellt 
und fuhr fort: „Aber, Nachbar, habt Ihr denn schon einen weißen Spatzen 
gesehen?“ 
„Nein,“ gab der Rückwärts zur Antwort, „die hier herumfliegen, sind 
alle grau.“ 
„Glaub's wohl,“ sagte darauf der Nachbar, „mit dem weißen Spatzen 
hat es sein eigen Bewenden. Alle Jahre kommt nur einer zur Welt, und 
weil er gar absonderlich ist, so beißen ihn die anderen, und er muß sein 
Futter suchen am frühen Morgen und dann wieder zu Neste gehen“ 
„Das wäre!“ sagte Rückwärts, „den muß ich sehen, und gelingt's, 
dann fang' ich ihn auch“ 
An nãchsten Morgen in aller Frühe war der Bauer auf den Beinen 
und ging um seinen Hof herum, auch ein Stücklein ins Feld hinein, ob 
der weiße Spatz nicht bald vom Neste käme. Aber dex wollte nicht kommen, 
und das verdroß den Bauer, jedoch noch mehr, daß auch sein Gesinde nicht 
aus dem Neste wollte, und die Sonne stand schon hoch. Dazu schrie das 
Vieh in den Ställen, und es war niemand da, der ihm Futter gab. 
Indem sieht er einen Knecht auf dem Hofe kommen, der trägt einen 
Sack auf der Schulter und will schnell zum Hofthore hinaus; dem eilt er 
nach und nimmt ihm die Last ab; denn in die Mühle sollte sie nicht, 
sondern ins Wirtshaus, wo der Knecht stark auf der Kreide stand 
Nach dem weißen Spatzen sehend, schaut der Bauer in den Kuhstall 
hinein, wo eben die Milchmagd einer Nachbarin durchs Fenster die Milch 
zum Morgenkaffee reicht, und die Milch war nicht mit des Herrn Maß 
gemessen. „Eine saubere Wirtschaft das!“ denkt der Bauer und weckt 
scheltend sein Weib und erklärt, das lange Schlafen müsse ein Ende haben, 
oder er wolle nicht Rückwärts heißen. Und bei sich selber denkt er: „Stehe 
ich früh auf wie heute, so muß auch das Packvolk aus dem Hofe heraus, 
und dabei sehe ich am Ende doch den weißen Spatzen, und will's das 
Glück, so fange ich ihn auch.“ 
Wie aber der Bauer das etliche Wochen getrieben hatte, da sah er 
nicht mehr nach dem weißen Spatzen, sondern dachte allein an seinen 
Vorsatz, und aus dem Rückwärts wurde bald ein Vorwärts. Und als der 
Nachbar wiederkam und ihn fragte: „Wie steht's, Gevatter, habt Ihr den 
weißen Spatzen gesehen?“ da lächelte der Bauer und drückte dem Freunde 
die Hand und sprach: „Gott lohn's Euch!“ Glaubrecht. 
1I1. Der deutsche Bauer. 
Mit dem zahen Beharren des Bauern hängt ein mächtiges Selbst- 
gefühl zusammen, ein stolzes Bewubtsein seines gesellschaftlichen 
Wertes. Der unverfälschte Bauer schämt sich nicht, ein Bauer zu sein; 
es liegt ihm im Gegenteil nahe, jeden andern zu unterschätzen. 
Der Bauer vom echten Schrot und Korn beneidet den vornehmen 
Mann keineswegs. Die Geschichte weiß von Bauernaufrubhr aller Art 
zu berichten, wodureh der geplagte Landmann sein Geschick zu bessern 
dachte; aber ein Streben der Bauern, aus ihrem Stand und Beruf 
herauszutreten, vornebme Leute werden zu wollen, den Pflug liegen 
zu lassen, ein solches Streben ist bei den deutschen Bauern ganz un—
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.