Antigone.
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bleiben. Wer sich aber unterstände, wider das Gesetz zu handeln,
würde dem Tode verfallen.
Auch Antigone vernahm diesen Befehl des Kreon, aber ihr
liebendes Herz, das für den Polyneikes genau so warm schlug wie für
den Eteokles, vermochte sich dem Gebot nicht zu fügen. Es erschien
ihr als eine furchtbare Sünde, daß der eine Bruder ohne Bestattung
und Totenopfer bleiben sollte. Wenn keiner in der Stadt es wagte,
sich gegen den mächtigen Kreon aufzulehnen, so möchte sie es wagen.
Und Antigone versuchte, den Beistand ihrer Schwester zu gewinnen.
Jsrnene aber war ein sanftes, schüchternes Mädchen, welche nicht
Antigones Heldenmut besaß, und deshalb sagte sie: „Wie sönnen wir,
zwei schwache Mädchen, es unternehmen, gegen den Willen des Königs
zu handeln?!" Da ging Antigone allein hin nach dem Feld, wo der
Leichnam des Polyneikes in einem traurigen Zustande dalag und
begann, ihn mit Erde zu bestreuen. Kreon aber hatte in der Nähe
Wächter hingestellt, die aufpassen sollten, ob jemand es vielleicht wagen
würde, an dem Toten die Bestattung zu vollziehen. Als die Wächter
die Antigone bei ihrem Werk ertappten, ergriffen sie sie und brachten
sie vor den König. Dieser war maßlos erstaunt, als er seine Nichte
erblickte, die auch keinen Augenblick ihre Tat ableugnete. „Wußtest
du nicht, daß ich's streng verboten hatte?!" herrschte Kreon das
Mädchen an, das die stolze Antwort gab: „Wohl wußte ich’s, doch
war's ja nicht Zeus, der es geboten hatte! Ich habe darauf zu
achten, daß ich zuerst den Todesgöttern gefalle, denn bei ihnen werde
ich einst länger weilen als auf der Erde." Der Zorn des Kreon
wuchs, als er Antigone so furchtlos reden hörte, und da sie keine Reue
zeigte, befahl er, daß man sie sofort in ein unterirdisches Gemach
führe. In diesem sollte sie fest verwahrt bleiben, für immer dem
Licht der Sonne entrückt.
Nicht leicht wurde es Antigone, Abschied zu nehmen vom lieben
Licht des Tages und allen seinen Freuden. Dennoch bereute sie keinen
Augenblick ihre fromme Tat. Vergeblich warnte der greife Seher
Teiresias den König vor zu großer Strenge. Vergeblich bat Kreons
jüngster Sohn Hämon, der mit Antigone verlobt war, für die Braut.
Kreon beharrte bei seinem Urteil.
Heftig erschrak er jedoch, als ihm die Botschaft gebracht wurde,
daß kein Opfer brennen wolle. Alle Altäre der Stadt feien besudelt
durch das dem Leichnam des Polyneikes entrissene Fleisch, welches die
Geier auf sie niederfallen ließen. Da erkannte Kreon, daß er sich
an den Göttern und einem hohen religiösen Gesetz versündigt habe,
als er dem Polyneikes die letzte Ehre versagte hatte.