Contents: Griechisch-römische Altertumskunde

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die das Epos von den Kämpfen und Leiden der Volksgötter gab, *) 
mehr und mehr weichen. So werden die Mythen von den Leiden und 
Kämpfen der Götter im Epos zu Erzählungen von rein irdischen Schick- 
jalen, die Götter werden zu Menschen mit allen irdischen Tugenden 
und Lastern. Die nun emporsteigende neue Götterwelt, die dem epischen 
Dichter notdürftig den neuen religiösen Hintergrund liefern muß, wirkt 
nur noch als deus ex machina; ihre Mythen entbehren des wesent- 
lichsten Merkmals, des dramatischen Gehaltes. Die vielfach an 
die Stelle des Mythos tretende sog. Kult- oder Tempellegende 
erweist sich gewöhnlich auf den ersten Blick als spätere, oft recht törichte 
Erfindung zur Erklärung gewisser Kulthandlungen und -namen. 
Zu groß war der Unterschied zwischen den religiösen Anschau- 
ungen des Volkes und der neugeschaffenen Religion Homers und 
Hesiods. Deshalb machte sich alsbald gegen den Anthropomor- 
phismus und die Diesseitsrichtung der letzteren eine Gegenwirkung 
geltend, die von dem in der Religion der Urzeit wurzelnden lNqjtizis- 
MUS ausging. Dieser steigerte die Vorstellung von der göttlichen Voll- 
kommenheit und verlegte das Erlösungswerk in das Innere des 
Menschen, indem er die Weltfluchtgedanken betonte und besonders die 
Selbstüberwindung und Abtötung der Leidenschaft und Begehrlichkeit 
als der Ursache alles Leidens forderte. Theoretisch wurde er ver- 
treten in dem Totenbuch der Orphiker (auch in der Horn. Nekyia), 
in dem Pythagoreismus und seiner Seelenwanderungslehre, in Piatons 
Lehre von der Anamnesis (und ihrer Konsequenz, dem Unsterblichkeits¬ 
glauben), praktisch in den zahlreichen Mysterien (bes. den athenisch- 
eleusinischen) und religiösen Vereinen {#£adoi). 
Trotzdem ist die homerische Religion namentlich während der 
griechischen Blütezeit in den gebildeten und aufgeklärten 
Kreisen die herrschende geworden. Es ist klar, daß sie je länger, 
desto mehr auch stark auf die Vorstellungen des Volkes einwirkte. 
Soweit es im griechischen Altertum eine Staatsreligion geben konnte, 
war sie es; die homerischen Epen waren Volksbücher. Homers Götter 
waren das Objekt nicht nur der Kunst, sondern auch des Kultus. 
„Die Vertiefung des ethischen Gehaltes dieser Religion durch die Tra- 
gödie, insbesondere durch Aischylos, das größte theologische Genie der 
Griechen, ging von einer allgemein gekannten, allgemein geglaubten, 
allgemein verehrten Götterwelt aus". Neben tiefer und inniger Frömmig¬ 
keit blühten im 5. und 4. Iahrh. auch üppig der Aber- und Un- 
glaube. Die Angriffe gegen die überlieferte Religion gingen zu¬ 
meist von der Philosophie aus, die ein Übriges tat, den ursprüng¬ 
lichen Kern der bisherigen religiösen Anschauungen zu verflüchtigen. 
Bald wurde der Gottesbegriff überhaupt geleugnet (Atheismus): die 
Götter wurden zu bloßen (Elementen und Kräften; bald wurde an die 
Stelle des überlieferten relativen Götterbegriffs der absolute gesetzt 
(Pantheismus oder Monotheismus: Plato und Aristoteles). „Was 
i) Achill, Agamemnon, Menelaos, Helena usw. waren solche Gottheiten, die 
in der Heimat auch einen Kult hatten.
	        
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