Full text: Mittelalter und neue Zeit bis zum Westfälischen Frieden (Bd. 1)

§ 37. Erste Blütezeit deutscher Dichtung. 
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in der Absicht, die edle Kriemhilde zur Gattin zu gewinnen. Ehrenvoll wird er 
empfangen und leistet bald dem König Gunther in einem Kriege gegen die Sachsen 
und Dänen siegreichen Beistand. Dann überwindet er im fernen Jsenland jenseits 
der See, in seine Tarnkappe gehüllt, an Stelle Gunthers die schöne, riesenstarke 
Königin Brunhilde (ursprünglich eine Walküre), so daß sie als Braut des 
Burgunderkönigs mit an den Rhein ziehen muß. Darauf wird in Worms doppelte 
Hochzeit gefeiert: Gunther wird mit Brunhilde, Siegfried mit Kriemhilde vermählt. 
Doch muß erst Siegfried noch einmal für Gunther einen Kampf mit Brunhilde 
bestehen und sie durch Entwindung ihres Gürtels und Ringes, die ihr dämonische 
Kraft verleihen, zwingen, willig Gunthers Gemahlin zu sein. Diese Gewaltthat 
wird sich später an Siegfried selber rächen. Zunächst aber begibt er sich mit seinem 
jungen Weibe in die Heimat, wo ihm sein Vater Land und Krone überträgt. Im 
Besitze großer Macht und Reichtümer herrscht er daselbst zehn Jahre in Ruhm und 
Ehre, ein herrlicher König, und lebt mit Kriemhilde in vollem Glück. 
Ganz anders im Burgunderlande. Dort verscheuchen Neid und Argwohn 
jedes Glück aus Brunhildens Seele. Sehnsucht heuchelnd, überredet sie endlich ihren 
Gatten, Siegsried und Kriemhilde nach Worms zu laden. Gerne willfahren diese 
der Einladung und kommen mit Heeresgefolge in prunkreichem Zuge dahin. 
Wie sonst werden wieder festliche Kampfspiele gefeiert, und wieder ist Siegfried 
allen anderen Helden an Kraft und Schönheit weit überlegen. In stolzer Bewunde- 
rung freut sich Kriemhilde des herrlichen Gatten. „Siehst du," sprach sie zu Brun- 
Hilde, „wie er so fürstlich über den anderen steht, wie der Mond vor den Sternen 
geht. Ihm sollten wahrlich alle diese Länder dienen!" Damit reizt sie aber von 
neuem den Neid und zugleich den Stolz der Brunhilde, welche für ihren Gatten 
den Vorzug fordert und mit Bitterkeit Kriemhilden vorwirft, daß sie und ihr Gatte 
doch nur Eigenholde Gunthers seien, wie dieser ihr gesagt. Da kommt es zu seind- 
seligem Streite zwischen den beiden Königinnen um ihren gegenseitigen Vorrang, 
wobei die gekränkte Kriemhilde der hochmütigen Gegnerin unbedachtsamerweise 
die beschämende Enthüllung macht, daß sie nicht von Gunther, sondern von Siegfried 
zweimal im Kampfe bezwungen worden fei. Und triumphierend zeigt sie der 
Brunhilde den Ring und den Gürtel, den diese in Gunthers Besitz wähnte. Da 
beschließt Brunhilde, in ihrer Ehre tödlich beleidigt und von Rachsucht getrieben, 
Siegfrieds Tod. 
Gunthers stärkster Dienstmann, der grimmige Hangen, der seiner Herrin 
treu ergeben ist, übernimmt das Rachewerk, und der schwache Gunther gibt seine 
Zustimmung. Auf einer Jagd im Odenwalds wird der hinterlistig vorbereitete 
Anschlag grausam ausgeführt: Hagen durchbohrt von rücklings durch einen Speer- 
Wurf den edlen Siegfried, der den Verrat nicht ahnt. Kriemhilde, von Hagen 
schmählich getäuscht, hatte in ihrer Arglosigkeit dem Falschen die einzige Stelle, an 
der Siegfried verwundbar war, selber mit einem eingestickten Kreuzchen bezeichnet. 
Der Held sinkt zu Boden, die Waldblumen mit seinem Blute überströmend. Bald 
ist ihm das Leben entflohen. Aber der Fluch ist zurückgeblieben, mit dem er den 
Tag harter Vergeltung voraussagt. Die Leiche wird nach Worms zurückgebracht. 
Zwar hat das Bahrgericht Hagens Blutschuld kund gethan, doch niemand wagt sich 
an den fürchterlichen Mann. Und so steht Kriemhilde in ihrem namenlosen Leide 
hilflos am Sarge ihres Gatten. 
Nach Siegfrieds Beisetzung bleibt Kriemhilde einsam in Worms zurück, um 
dem treuen Andenken an den geliebten Gatten den Rest ihres Lebens zu weihen. 
Winter, Lehrbuch der Deutsch, u. Bayer. Geschichte. L Teil. 2. Aufl. 7
	        
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