Full text: Lesebuch für ländliche Fortbildungsschulen sowie für landwirtschaftliche Winter- und Ackerbauschulen

O. In Freud' und Leid — des Herrn allzeit. 
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danken. So geh doch jetzt! Die Bank ist bis drei Uhr offen. Bei 
Löw und Stern, Ecke der Herrenstraße. Soll ich dir's aufschreiben? 
Nein, ich will dich lieber an der Ecke erwarten. Wir können dann 
auf die Abendbörse gehen. Servus!“ 
Ich ging fort. Wie kommt mir heute der Philipp vor? Er ist 
doch sonst nüchtern und gewissenhaft. Sollte ihn auch das Gewinn— 
fieber erfaßt haben? Man hört, daß es jetzt so arg grassiert. Nein, 
mir tut's nichts. Ansteckende Krankheiten fürchte ich nicht viel. Zur 
Sparkasse ging ich natürlich nicht. Das Bissel, was drin liegt, soll 
liegen bleiben. Ich weiß nicht einmal, wie man dazu kommt, daß es 
fünf Prozente trägt, ohne daß man einen Finger zu rühren braucht. 
Irgendwo muß sich doch was rühren, daß es so wächst. — Ich dachte 
nicht weiter dran und ging nach Hause. 
2. Als im nächsten Frühjahr der Hochzeitstag in die Nähe kam, 
als alles in der Stadt florierte, nobel lebte, während ich das neue 
Heim nur ganz einfach einrichten konnte, da fiel mir wohl ein paarmal 
ein: Wenn du dem Philipp gefolgt wärest! Die Papiere stehen 
schwindelnd hoch; ohne jede besondere Spekulation hätte sich das kleine 
Vermögen verzweifacht. Bei anderen hat es sich verfünffacht seit einem 
Jahre. Wenn man einigermaßen Mißtrauen hat, so kann man die 
Scheine ja rechtzeitig verkaufen. Es soll ja überhaupt keine Gefahr 
sein. Der politische Horizont ist völlig klar; alle Geschäfte gehen glänzend. 
Wenn man halt keinen Mut hat, bleibt man ein armer Teufel. Die 
Vorbereitungen zur Hochzeit ließen weitere Skrupel nicht aufkommen. 
Am dreizehnten Mai endlich sollte die langersehnte Stunde sein, die 
uns einander gab. 
Da war es vierzehn Tage vorher, gegen Abend, daß mein alter 
Kamerad Philipp ganz verstört durch die Gasse lief, mich anstieß und, 
ohne „Pardon“ zu sagen, davon hastete. Er hatte mich gar nicht er— 
kannt. Auch andere hatten es heute besonders eilig, und an den Ecken 
standen Menschengruppen, die heftig miteinander sprachen und mit den 
Armen hin- und herfuhren. — Was war geschehen? — „Es kann 
nur vorübergehend sein,“ hörte ich sagen. „Es erholt sich wieder.“ „Nein, 
das erholt sich nicht, das ist eine Katastrophe.“ — Ein Börsensturz. 
Am letzten Tage vor der Hochzeit ging ich in den Abendstunden 
heim. Die Straße war menschenleer. Auf der Brücke sah ich im 
Dunkeln einen Mann, der sich ans Geländer schmiegte und in die 
Tiefe blickte, wo das dumpfe Rauschen des Stroͤmes war. Ich er— 
kannte meinen Philipp. Ich beobachtete ihn. Das Ding war nicht 
ganz geheuer. Als er mit dem einen Fuß auͤfs Geländer sprang, packle 
ich ihn am Arme. „Was ist das?“ „Lassen Sie mich! Wen geht's 
was an?“ stöhnte er, dann, als er mir beim Schein der nächsten 
Laterne ins Gesicht schaute: Du? Freund, du kommst mir jetzt un— 
gelegen.“ „Aber zu rechter Zeit, wie ich glaube.“ „Laß mich fahren, 
Bettler gib's noch genug!“ „Du hast verloren?“ „Alles.“ „Und 
darum willst du da hinab? Ja, Philipp, weshalb ladest denn du mich 
nicht ein, mit dir zu kommen?“ „Hast du auch verloren?“ fragte er.
	        
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