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II. Die erste Blütezeit der deutschen Dichtung.
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Endlich muß Marke doch gegen die beiden einschreiten und verbannt sie
von seinem Hof. Sie verleben nun in einer Felshöhle unter den armseligsten
Umständen eine Zeit größten Liebesglückes. Eine nochmalige Aufnahme bei
Marke endet wieder mit Tristans Verbannung. Er verpflichtet sich mit seinem
Schwert einem Herzog von Arundal, der ihn an seinem Hof aufnimmt. Hier
lemt er eine andere Jsolt, die Weißhändige, des Herzogs Tochter, kennen.
Die Erinnerung an die blonde erste Jsolt, das Wohlgefallen an der zweiten
treiben ihn in eine merkwürdige Gefühlsmischung, zumal er wiedergeliebt
wird. Er ergeht sich in Selbstbetrachtung über seinen Zustand — damit bricht
das Gedicht ab. Wahrscheinlich starb Gottfried darüber um 1210. Zwei spätere
ritterliche Sänger haben sein Werk zu Ende geführt: Tristan heiratet die
weißhändige Jsolt und stirbt an einer vergifteten Wunde, ehe die herbeigeholte
blonde Jsolt mit ihrer Zauberkunde ihn retten kann. Auch sie stirbt vor Gram,
und Marke begräbt die beiden in einem Klostergarten.
Sechstes Kapitel.
Spielmann und Heldendichtung zur Zeit der höfischen Poesie.
(7>er deutsche Spielmann, der fahrende Sänger aus dem Volk, war mit
XJ dem Siege des Christentums in seiner Stellung tief gesunken. Unent¬
behrlich an Höfen und auf Burgen wie bei Volksfesten, gehörte er doch mit
Gauklern aller Art zu den verachteten, unehrlichen Leuten, verfemt und
rechtlos. Im 12. Jahrhundert erlebte dieser Stand nun einen gewissen geistigen
Aufschwung. Der Umgang mit den fahrenden Geistlichen, den Vaganten
oder Scholaren, mit denen die Spielleute Schicksale und Kenntnisse tauschten,
bot ihnen neue Stoffe und viel Anregung, sie traten mit dem Klerus in
Wettbewerb und überholten ihn vielfach. Stärker noch wurden sie durch die
höfischen Laiendichter beeinflußt, deren epische und lyrische Dichtungen sie
vortrugen, wie ihnen überhaupt der ganze Literaturschatz des Mittelalters
gehörte. Auch das Tierepos ist Spielmannsdichtung. Andererseits
trugen sie der höheren Stufe der ritterlichen Poesie ein herrliches Erbe zu,
dessen Erhaltung durch die Jahrhunderte wir nur ihnen allein verdanken:
unsere nationalen Heldendichtungen, die Lieder von Siegfried,
Kriemhild, Dietrich, Gudrun. Wandernde Spielleute brachten sie von
fränkisch-sächsischem Gebiet nach dem Südosten, nach Bayern und Österreich.
Hier traten sie beherrschend in den Gesichtskreis der ritterlichen Gesellschaft
und wurden von ritterlichen, den Fahrenden nahestehenden Sängern nach
dem Muster der höfischen Meisterdichtungen, aber unter Beibehaltung der
epischen aus der alliterierenden Langzeile umgebildeten Strophe, die man als
die Lür6nberg68 wise (in dessen Liedern angewandt) bezeichnet, in die
Form gebracht, in der wir sie als unsere großen Volksepen besitzen. „Die
Verschiedenartigkeit einzelner Bestandteile unseres Nibelungenliedes neben der
unleugbaren Einheit des Ganzen erklärt sich wohl am besten aus der Annahme,
daß ein singbares Gedicht, das Kriemhildens Rache behandelte, unter
Benutzung anderer Darstellungen desselben Gegenstandes planmäßig zu einem