Full text: Deutsches Lesebuch für Vor- und Unterklassen höherer Lehranstalten (Teil 2, [Schülerband])

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202. Friedrich der Große in Gefangenschaft. 
Es wurden große Tagemärsche ohne Rasttage gemacht, die 
Truppen waren ermüdet und niedergeschlagen. Der König ritt 
zu den Regimentern hinan und sprach ihnen Mut zu. „Es 
wird Zeit", entgegnete ihm ein alter Fahnenschmied, „daß Ew. 
Majestät Frieden machen, denn so geht das doch nicht mehr", 
— hierbei zeigte er ans den ganz aufgerissenen Stiefel des 
Königs, durch den die Zehen herausschauten. „Dafür wird es 
doch noch Doktors geben", sagte der König, und sogleich meldete 
sich der Regimentssattler, der zugleich im Notfälle die Stelle eines 
Schuhmachers vertrat, mit dem Anerbieten, den Schaden zu 
kurieren. Der König nahm das Anerbieten an, und während 
das Regiment weiter marschierte, blieb er mit dem Schuhmacher 
halten, ließ sich den Stiefel ausziehen und vertrante die Aus¬ 
besserung dem hilfreichen Sattler an. Bald aber wurde er un¬ 
geduldig und verlangte, noch ehe die Arbeit vollendet war. 
seinen Stiefel zurück. „Ew. Majestät", sagte der Stiefelflicker 
ganz gelassen, „befinden sich jetzt in meiner Gefangenschaft und 
werden sich schon etwas gedulden müssen. Seien Sie froh, daß 
wir diesmal nur den Stiefel und nicht auch das Bein zu 
kurieren haben." — „Werd' er mir nur nicht ungnädig", sagte 
der König, „ich merke wohl, Schuhmacher und Doktors verstehen 
keinen Spaß, wenigstens nicht, so lange man sich in ihren Händen 
befindet." Friedrich hielt nun in Geduld aus, bis er seinen 
Stiefel zurück erhielt. Fr. Förster. 
203. Me Friedrich der Große Kindesliebe belohnt. 
Während seiner letzten Krankheit hatte Friedrich der Große 
viel unruhige Nächte. In einer solchen schlaflosen Nacht fragte 
er den Bedienten, der gerade die Wache hatte, was die Uhr 
wäre. „Zwölf Uhr", erwiderte dieser. „Ach", sprach der König, 
„ich kann gar nicht schlafen; erzähle mir doch was!" — Der 
ehrliche Pommer wußte nicht, was er einem König erzählen 
sollte, und schwieg verlegen. Da fragte ihn der König: „Wo 
bist du her?" — „Aus einem Dorfe in Hinterpommern." — 
„Hast du noch Eltern?" — „Noch eine Mutter." — „Wovon 
ernährt sie sich?" — „Vom Spinnen." — „Wie viel verdient 
sie täglich damit?" — „Alle Tage ihre sechs Dreier." — „Davon 
kann sie sich wohl nicht viel zugute tun?" — „Hm! in Pommern 
ist wohlfeil leben." — „Hast du ihr denn noch nichts geschickt?" 
„O ja, ich habe ihr schon einigemal ein paar Taler geschickt."
	        
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