Full text: [Teil 1, [Schülerband]] (Teil 1, [Schülerband])

114 
sie mit nerviger Faust gegen den Boden, daß Blut und Gehirn 
umherspritzte. Sogleich zerriß er sie weiter und fraß sie auf mit 
Haut und Haar. Wir jammerten laut, als wir die entsetzliche 
Freveltat sahen, und flehten zu Zeus, dem Beschützer der Reisenden; 
aber den Kyklopen rührte unser Angstgeschrei nicht. Nachdem er 
sich den gewaltigen Wanst mit Menschenfleisch gefüllt hatte, schlürfte 
er noch einmal einen Kübel voll Milch zu der abscheulichen Mahl— 
zeit und streckte sich dann zum Schlafen der Länge nach in der 
Höhle nieder. 
„Was tust du?“ sprach ich jetzt zu mir selbst, „bohrst du ihm 
das Schwert ins Herz, ehe er aufwacht, und rächst auf der Stelle 
die blutige Schandtat? — Aber nein! wenn ich ihn tötete, wer 
öffnete uns dann die schwerverrammelte Türe? Keiner als der 
Riese selbst ist ja vermögend, den gewaltigen Stein von der Stelle 
zu schieben.“ Der Anschlag wäre also nicht klug ersonnen ge— 
wesen; wir hätten uns selbst den jämmerlichsten Hungertod be— 
reitet. Wir mußten etwas Besseres ersinnen und erwarteten 
unter Furcht und Zweifeln den Anbruch des Tages. 
Mit der Morgenröte erwachte auch der Kyklop, legte frisches 
Holz ans Feuer und melkte seine Herde Stück für Stück. Dann 
trat er ohne Umstände, als müßte es so sein, an uns heran, packte 
wieder zwei von meinen lieben Gefährten und tötete und verzehrte 
sie wie am gestrigen Tage. Hierauf stieß er den Stein von der 
Tür zurück, trieb die Herde hinaus und schob den ungeheueren 
Fels wieder vor, wie man etwa einen Deckel auf den Köcher setzt. 
Da waren wir also wieder eingesperrt und zwar diesmal 
allein, den ganzen Tag. Jetzt ersann ich einen Anschlag, uns zu 
befreien und zugleich die erschlagenen Gefährten zu rächen. Sein 
großes Auge wollte ich ihm ausbohren und zwar nicht mit dem 
Schwerte, sondern mit einem glühenden Pfahle. Dazu erblickte ich 
in der Höhle ein herrliches Werkzeug, des Riesen eigene Keule aus 
grünem Olivenholz, so lang und dick wie ein Mastbaum. Die 
legte ich mir zurecht und hieb ein Ende von der Spitze ab, etwa 
ein paar Ellen lang. Meine Gefährten mußten mir's glätten, 
dann spitzte ich selber den Pfahl oben zu und härtete die Spitze in 
der lodernden Flamme des Feuers. Jetzt war meine Waffe fertig 
und ich verbarg sie sorgfältig unter dem Miste, womit der Fuß— 
boden dicht belegt war. So erwarteten wir unruhig den Abend 
und des Kyklopen Rückkehr. 
Endlich kam er mit seinen gemästeten Herden und trieb sie 
wieder zu uns herein. Diesmal ließ er keine Tiere im Vorhof zu— 
rück, sondern brachte die ganze Herde in die Höhle, mochte dies sein 
aus Argwohn oder weil es ein Gott so fügte. Dann setzte er den 
gewaltigen Stein vor, melkte seine Schafe und Ziegen, fraß wieder
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.