Full text: Lesebuch für die ländlichen Fortbildungsschulen der Provinz Ostpreußen

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93. Das Samenkorn. 
Jedes Samenkorn, sei es auch noch so klein, ist merkwürdig durch seine 
Beschaffenheit. Es besteht aus einem weißen, mehlartigen Kern und aus 
einer Schale, die den Keim überzieht, um ihn zu schützen. Außer der groben, 
äußeren, harten Schale, die den Kern vor allen Verletzungen behüten muß, 
liegt zwischen ihr und dem Kern noch eine feine, dünne Haut, damit die feste 
Schale den Kern nicht drücken möge. So hüllt eine liebende Mutter ihr 
zartes Kind in mehrere Tücher ein, um es zu schonen, und legt die feinsten 
Tücher gern zunächst um des Kindes Glieder. Welche Fürsorge des Schöpfers 
für das Allerkleinste in seiner Natur! Wie manche Eltern haben für ihre 
eigenen Kinder und deren Gesundheit nicht so viel Sorgfalt als Gott für 
das Leben des kleinsten, oft kaum dem Auge sichtbaren Samenkorns der 
einfachsten Pflanze! Aber auch das Innere des Samenkörnleins ist merk— 
würdig. Man entdeckt darin einen kleinen Punkt, der erhaben ist. Man 
nennt ihn das Herzchen; es ist der Keim der künftigen Pflanze, der erste 
Anfang zum Kornhalm oder zum Eichbaum. Selbst also auch die mehligen 
Teile sind nur eine neue Hülle; sie dienen dem jungen Keim als erste Nahrung, 
solange er, nicht hervorgetrieben, noch keine Wurzeln und Blätter gebildet 
hat, um Nahrung aus Luft und Erde einzusaugen. Sie sind dem jungen 
Pflanzenkinde gleichsam die erste Muttermilch, durch welche es erhalten 
wird, bis es fähig ist, stärkere Kost zu genießen. Wenn nun im Frühjahr 
die Strahlen der Sonne den feuchten Erdboden durchwärmen, regt sich der 
wohlverwahrte Keim. Er nimmt Wasser aus dem Boden und Nahrung 
aus dem Korne auf, schwillt infolgedessen an und zersprengt die ihn um— 
gebende Schale, so daß er hervordringen kann. Die Kraft, welche dieser 
schwache Keim hat, ist erstaunungswürdig. Wenn man ein Gewicht von 
hundertundfünfzig Pfund auf Erbsen legt, die man durch Anfeuchtung 
zum Keimen lockt, so wird das Gewicht durch das Schwellen der Erbsen be— 
wegt, und der Keim dringt hervor. Woher diese außerordentliche Stärke? 
Wie kann solche Kraft in einem so zarten Keime wohnen, den der Finger 
eines Kindes zerstört? — Der scharfsinnigste Künstler auf Erden und der 
gewaltigste der Fürsten, dessen Winken Millionen Menschen gehorchen, 
können sie ein einziges Samenkorn schaffen? 
Heinrich Zschokke. (Gesammelte Schriften.) 
94. Wie das Mehl in den Getreidekörnern entsteht. 
Unzähligemal haben wir im verflossenen Mai zum Himmel hinauf— 
gesehen: „O, daß doch Regen käme!“ und im Juli: „O, daß doch die Sonne 
scheinen wollte!“ Denn Regen und Sonnenschein sind nötig, wenn in den 
Ahren des Getreides das kostbare Mehl entstehen soll, aus dem wir unsere 
unentbehrlichste Speise, das Brot, bereiten. Aber woraus der Roggenhalm 
das Mehl darstellt, und wo und wie er das tut, das ist den wenigsten bekannt.
	        
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