175
93. Das Samenkorn.
Jedes Samenkorn, sei es auch noch so klein, ist merkwürdig durch seine
Beschaffenheit. Es besteht aus einem weißen, mehlartigen Kern und aus
einer Schale, die den Keim überzieht, um ihn zu schützen. Außer der groben,
äußeren, harten Schale, die den Kern vor allen Verletzungen behüten muß,
liegt zwischen ihr und dem Kern noch eine feine, dünne Haut, damit die feste
Schale den Kern nicht drücken möge. So hüllt eine liebende Mutter ihr
zartes Kind in mehrere Tücher ein, um es zu schonen, und legt die feinsten
Tücher gern zunächst um des Kindes Glieder. Welche Fürsorge des Schöpfers
für das Allerkleinste in seiner Natur! Wie manche Eltern haben für ihre
eigenen Kinder und deren Gesundheit nicht so viel Sorgfalt als Gott für
das Leben des kleinsten, oft kaum dem Auge sichtbaren Samenkorns der
einfachsten Pflanze! Aber auch das Innere des Samenkörnleins ist merk—
würdig. Man entdeckt darin einen kleinen Punkt, der erhaben ist. Man
nennt ihn das Herzchen; es ist der Keim der künftigen Pflanze, der erste
Anfang zum Kornhalm oder zum Eichbaum. Selbst also auch die mehligen
Teile sind nur eine neue Hülle; sie dienen dem jungen Keim als erste Nahrung,
solange er, nicht hervorgetrieben, noch keine Wurzeln und Blätter gebildet
hat, um Nahrung aus Luft und Erde einzusaugen. Sie sind dem jungen
Pflanzenkinde gleichsam die erste Muttermilch, durch welche es erhalten
wird, bis es fähig ist, stärkere Kost zu genießen. Wenn nun im Frühjahr
die Strahlen der Sonne den feuchten Erdboden durchwärmen, regt sich der
wohlverwahrte Keim. Er nimmt Wasser aus dem Boden und Nahrung
aus dem Korne auf, schwillt infolgedessen an und zersprengt die ihn um—
gebende Schale, so daß er hervordringen kann. Die Kraft, welche dieser
schwache Keim hat, ist erstaunungswürdig. Wenn man ein Gewicht von
hundertundfünfzig Pfund auf Erbsen legt, die man durch Anfeuchtung
zum Keimen lockt, so wird das Gewicht durch das Schwellen der Erbsen be—
wegt, und der Keim dringt hervor. Woher diese außerordentliche Stärke?
Wie kann solche Kraft in einem so zarten Keime wohnen, den der Finger
eines Kindes zerstört? — Der scharfsinnigste Künstler auf Erden und der
gewaltigste der Fürsten, dessen Winken Millionen Menschen gehorchen,
können sie ein einziges Samenkorn schaffen?
Heinrich Zschokke. (Gesammelte Schriften.)
94. Wie das Mehl in den Getreidekörnern entsteht.
Unzähligemal haben wir im verflossenen Mai zum Himmel hinauf—
gesehen: „O, daß doch Regen käme!“ und im Juli: „O, daß doch die Sonne
scheinen wollte!“ Denn Regen und Sonnenschein sind nötig, wenn in den
Ahren des Getreides das kostbare Mehl entstehen soll, aus dem wir unsere
unentbehrlichste Speise, das Brot, bereiten. Aber woraus der Roggenhalm
das Mehl darstellt, und wo und wie er das tut, das ist den wenigsten bekannt.