Full text: Lehr- und Lesebuch oder die Vaterlands- und Weltkunde

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direkter Weg zum Füllen führt, das indeß «rüde geworden ist und wie 
ein Osterlämmchen im Grase liegt. Der Wolf wacht indeß bedeutend. 
Er könnte es schon längst erschnappen; aber es liegt ihm nicht bloß 
am Fange, sondern auch am ruhigen Heimbringen und Verzehren, und 
dazu hört er immer noch die Tritte der Alten zu nahe. So unaus¬ 
gesetzt er auf das Junge schaut, so scharf horcht er auf die Stute, die 
er vor allen Wermuth- und Königskerzenstauden längst nicht mehr sehen 
kann. Denn sie ging indeß weidend und milchreiche Kräuter suchend, 
weiter und immer weiter. Auf Ein Mal horch! welch Gestrampel und 
Geschnaube! Ach, der Wolf an der Kehle des kleinen niedlichen Fül¬ 
lens! — Man muß dabei gewesen sein, um zu wissen, wie schnell er 
ein solches Thierchen zerlegt. Oft bekommt es nicht einmal Zeit zum 
Strainpeln und Schreien, und der Wolf verzehrt es in aller Stille. 
20. Der Bär. . 
Aus seinem langen Winterschlafe erwacht der Bär, streckt sich und 
brummt, weil ihn die Frühlingssonne schon so bald in seinem Traume 
stört. Abgemagert tritt er aus seiner entlegenen Höhle hervor und 
sieht sich zunächst nach einem guten Frühstücke um. Er schleppt sich 
langsam und schwerfällig durch die finstere Waldung; seine breiten 
Tatzen haben sich gehäutet, und jeder Schritt kommt ihm sauer an. 
Den finstern Blick wirft er ins Gebüsch, ob nicht ein Reh zu erspähen 
sei, oder ein Hase. Er horcht auf das Summen der Bienen und 
sehnt sich nach dem Honig, achtet auf den Laus der Ameisen, deren 
Säure seinen Gaumen besonders kitzelt, schnüffelt sogleich am Boden 
nach schmackhaften Kräutern, nimmt aber am Ende mit Gras und Wur¬ 
zeln vorlieb, wenn er nichts Besseres findet. Kaum vermag ein guter 
Fang seine mürrische Stimmung etwas zu erheitern, und nur gegen 
die Bärin erweist er sich freundlich, eben auch nach seiner Weise. Zur 
düstern Gemüthsart des Bären schickt sich sein Körperbau; er ist kurz¬ 
beinig und plumpen Leibes, steckt Sommer und Winter in dichter, zot¬ 
tiger Wildschur. Sein Hals ist dick, breit der Kopf, die Stirne platt, 
aber die Schnauze vorgestreckt; stark sind das Gebiß und die Klauen 
seiner Tatzen. Das kleine, schiefe Auge zeigt einen mißtrauischen Blick, 
und das ausgerichtete kurze Ohr erspürt von fern den Laut; die feine 
Nase leitet ihn auf den Fang. Der Künste treibt er mancherlei, geht 
oft ausrecht, doch wackelnd, klettert geschickt auf Bäume, versucht, ob sie 
ihn wohl tragen, reißt mit den Tatzen die Äste an sich; mit den Zäh¬ 
nen pfiückt er die Früchte; ist er aber satt, so läßt er sich am Stamme 
herunter rutschen und kommt sicher auf die Füße.. Genießt der Bär 
von Jugend auf das Glück einer guten Erziehung, so bringt er es 
weit in schönen Künsten; er tanzt nach dem Schlag der Trommel und 
nach der Pfeife die Menuet in abgemessenen Schritten, reitet sein 
Steckenpferd, setzt mit Anstand den Hut aus, macht Bücklinge und streckt 
seinem Tanzmeister dankend die Pfote dar. Alles dies thut er unter 
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