Full text: Lesebuch für gewerbliche Fortbildungsschulen

27. Erlkönig. 1 
23. „Ich dank' euch,“ spricht der Meister, „ihr Herren lieb und wert; 
Doch eine andre Gnade mein Herz von euch begehrt: 
24. Laßt mich nur einmal hören der neuen Glocke Klang! 
Ich hab' sie ja bereitet; möcht' wissen, ob's gelang.“ 
25. Die Bitte ward gewährt; sie schien den Herrn gering; 
Die Glocke ward geläutet, als er zum Tode ging. 
26. Der Meister hört sie klingen, so voll, so hell, so rein; 
Die Augen gehn ihm über, es muß vor Freude sein. 
27. Und seine Blicke leuchten, als wären sie verklärt; 
Er hat in ihrem Klange wohl mehr als Klang gehört. 
28. Hat auch geneigt den Nacken zum Streich voll Zuversicht, 
Und was der Tod versprochen, das bricht das Leben nicht. 
29. Das ist der Glocken Krone, die er gegossen hat, 
Die Magdalenenglocke zu Breslau in der Stadt. 
30. Die ward zur Sünderglocke seit jenem Tag geweiht; 
Weiß nicht, ob's anders worden in dieser neuen Zeit. 
Wilh. Müller, geb. 1794 zu Dessau, ꝓdaselbst 30. September 1827.) 
27. Erlkönig. 
1. Wer reitet so spät durch Nacht und Wind? 
Es ist der Vater mit seinem Kind; 
Er hat den Knaben wohl in dem Arm; 
Er faßt ihn sicher, er hält ihn warm. 
2. ‚Mein Sohn, was birgst du so bang dein Gesicht!“ — 
„Siehst, Vater, du den Erlkönig nicht? 
Den Erlenkönig mit Kron' und Schweif?“ — 
„Mein Sohn, es ist ein Nebelstreif.“ — 
3. „Du liebes KNind, komm, geh mit mir: 
Gar schöne Spiele spiel' ich mit dir; 
Manch' bunte Blumen sind an dem Strand; 
Meine Mutter hat manch' gülden Gewand.“ — 
4. ‚Mein Vater, mein Vater, und hörest du nicht, 
Was Erlenkönig mir leise verspricht?“ — 
„Sei ruhig, bleibe ruhig, mein Kind; 
In dürren Blättern säuselt der Wind.“ — 
5. „Willst, feiner Knabe, du mit mir gehnd 
Meine Cöchter sollen dich warten schön; 
Meine Töchter führen den nächtlichen Reihn 
Und wiegen und tanzen und singen dich ein.“ 
6. „Mein Vater, mein Vater, und siehst du nicht dort 
Erlkönigs Töchter am düstern Ort?“ — 
Mein Sohn, mein Sohn, ich seh' es genau; 
Es scheinen die alten Weiden so grau.“ — 
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