Full text: Lehr- und Lesebuch für städtische und gewerbliche Fortbildungsschulen

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gebliebenen Abfall der Zuckerrunkel die wichtige Ochsenmast. Ohne die 
Benutzung des Abfalles würde gerade die größte Rente der Fabriken ver— 
loren gehen. Ebenso wertvoll wird die Mast der Olkuchen oder der beim 
Auspressen des Ols übrig gebliebenen Zellenmasse der Olfrüchte. Auf 
den Resten der ausgekelterten Weintrauben (den Trestern) beruht zum Teil 
die Bleiweißfabrikation, sowie die Bereitung des wichtigen „Frankfurter 
Schwarz“ oder der chinesischen Tusche auf die Verbrennung der Wein— 
trestern und der als überflüssig abgeschnittenen Weinreben begründet ist. 
Wohin wir auch blicken im Gebiete der Industrie, überall tritt uns 
das Bild der Verklärung des Niedrigen entgegen, den Geist belebend und 
erhebend. Wie es des Lebens höchste Aufgabe ist, uns selbst zu verklären, 
d. h. die streitenden Gegensätze von Schlecht und Gut, von Niedrig und 
Hoch, von Unvollkommen und Vollkommen, überhaupt von Feind und Freund 
zu versöhnen, also hat auch die Industrie in ihrer ewigen Verklärung des 
Niedrigen die höchste sittliche Aufgabe gelöst, wie sie kein Denker, kein 
Dichter, kein Künstler höher lösen kann. Sie hat nach dem Idealen gestrebt, 
vom Niedrigsten zum Höchsten. So ist sie auch der Abglanz des höchsten 
Ideals geworden, der Abglanz der Natur. Nichts geht in dieser verloren, 
kein Stäubchen, kein Tropfen, kein Hauch, keine Kraft. Kein Atemzug ist 
umsonst; denn die ausgehauchte Kohlensäure wird aus der Luft wieder mit 
dem Regen niedergeschlagen, um noch, gleichviel wie wenig oder wie viel, 
als Pflanzennahrung zu dienen. Keine Cigarre vermag der Raucher zu 
vernichten; sie muß verbrannt als neue Kohlenstoffverbindung wie die aus— 
gehauchte Kohlensäure dienen. Kein Blitz kann durch die Luft zucken, er 
muß aus dem Stickstoff und Wasserstoff der Luft Ammoniak bilden. Wenn 
wir dasselbe auch kaum ahnen, führt es der Regen den Pflanzen doch als 
neue, wichtige Quelle des unentbehrlichen Stickstoffs, als Nahrung zu. 
Keine Blume kann durch die stille Nacht ihre Balsamdüfte senden; sie müsfen 
der Pflanze wieder ebenso zu gute kommen. Wohin wir uns auch wenden, 
die Natur macht alles gleichsam wieder zu Geld, das Kleinste, das Unbe— 
deutendste. Dadurch erhält sie sich in ewigem Gleichgewichte, ewiger Har— 
monie. Jedes Teilchen erhält dadurch sein Anrecht auf Thätigkeit, Leben, 
Glückseligkeit und Unsterblichkeit. In das Große eingreifend, muß es das 
Ganze vermehren; und wär' es auch nur ein Tropfen, der sich ins weite 
Meer versenkte, mit ihm verbunden feiert er in der Majestät und Herrlichkeit 
desselben seine eigne Verklärung. Das ist das Gesetz der weisen Spar— 
samkeit, der Okonomie der Natur! Es gehört zu ihren höchsten Gesetzen. 
Ihm nachstreben heißt — sich vollenden; und somit wird uns selbst die 
Industrie zum Evangelium, das uns mit des Dichters Worten zuruft. 
Was der Mensch mit rr tritt, 
das sei künftig deine Liebe! 
Karl Müller.
	        
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