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246. Die neuere Tischlerei.
Die Tischlerei gehört mit dem gesamten Holzgewerbe zu den Gewerbe—
zweigen, die ganz unter der Signatur der modernen Technik und der
weitestgehenden Arbeitsteilung stehen. Es verlohnt sich daher, wenn wir
einmal die geschichtliche Entwicklung der Tischlerei von der mittelalterlichen
Zunft bis zur Gegenwart verfolgen. Auch das Tischlerhandwerk lag wie
alle andern Erwerbszweige unmittelbar nach dem dreißigjährigen Kriege
arg darnieder, und die Kunst schien dem deutschen Schreinerhandwerk
vollständig abhanden gekommen zu sein. Wollte ein Tischler etwas
Gediegenes schaffen, so mußte er in Paris oder in Italien und Rußland
seine Werkstatt aufschlagen, wo allerdings auch die Verfeinerung aller
Lebensbedürfnisse dem Geschmack und Geschick auch Gelegenheit zur Be—
tätigung boten. Unter Napoleon J. siedelten sich in der Pariser Vorstadt
St. Antoine zahlreiche deutsche Tischler an, und manche derselben waren
als Kunstschreiner oder Ebenisten Kunsttischler) geschätzt und geachtet.
Den ersten Großbetrieb im Tischlergewerbe hatte im nordwestlichen
Deutschland anscheinend der Tischlermeister David Röntgen zu Neuwied
am Rhein, ein Vorfahr des berühmten Entdeckers der Rönlgenstrahlen.
An 100 Hobelbänken beschäftigte er seine Schreinergesellen, und außer
diesen waren noch zahlreiche Schlosser und Mechaniker für ihn tätig. Die
französische Regierung verlieh Röntgen den Titel eines Königlichen Hof—
mechanikus, und König Friedrich Wilhelm III. verlieh ihm nicht nur den
Titel eines Geheimen Kommerzienrates, sondern besuchte mit seinem Hof—
staate auch seine Werkstatt und ließ sich von ihm zu Gaste laden. Das
Tischlerhandwerk in ein Fabrikgewerbe übergeleitet und wesentlich zum
Aufschwunge der Tischlerei beigetragen zu haben, ist das Verdienst des
Schreinermeisters Friedrich Wirth. 1806 als der Sohn des Oberzunft—
meisters Wirth in Stuttgart geboren, hatte er es sich wie sein Vater zur
ganz besonderen Aufgabe gemacht, nur gute Arbeiten in feiner Ausführung
zu liefern. Nach dem Tode seines Vaters vergrößerte er die Schreinerei
wesentlich und richtete ein Möbelmusterlager ein, wodurch er seinen
Mitbürgern vor Augen führte, was genaue, künstlerisch durchgeführte
Schreinerarbeit sei. Aber die engherzigen, verknöcherten Zunftgenossen
erblickten hierin eine ungehörige, schädliche Neuerung. Da Wirth zu
seinen Werkstättenerzeugnissen auch gedrechselte Teile verwendet hatte, die
nach verbrieftem Rechte nur der Drechsler anfertigen durfte, wurde er
von der Drechslerzunft wegen Pfuscherei verklagt. Aber trotz aller neidischen
Angriffe blühte das Geschäft Wirths immer mehr empor, und sein Landes—
herr verlieh ihm den Titel eines Hofebenisten.
Mit scharfem Blick hatte Wirth den Wert der Maschine erkannt, und
schon vor dem Jahre 1850 waren Säge- und Hobelmaschinen in seiner Werkstatt
im Betriebe. Auf der Leipziger Industrie-Ausstellung von 1850 mit der
silbernen Medaille bedacht, fuͤhrte er nach einem Besuche der ersten Londoner
Weltausstellung (1851) einen vollständigen Maschinenbetrieb in seiner
Werkstatt ein. Das erregte unter seinen Zunftgenossen wie bei seinen
übrigen Mitbürgern gewaltiges Aufsehen.
Der Fabrikbetrieb Wirths befaßte sich insbesondere mit der Herstellung
der Bretter für Parkettfußböden. Mit der Maschine konnten die sauber