Full text: Deutsches Lesebuch für städtische und gewerbliche Fortbildungsschulen

233 
heim auch findet. Ich habe Handwerksburschen gekannt, die von 
großen Städten nichts zu sagen wußten, als das Wahrzeichen, in 
Straßburg das große Münster, in Basel den Lallenkönig. 
Wie man oft aus den Gesichtszügen eines Menschen auf dessen 
Gemütsart schließen kann, so haben auch Länder und Städte ihre 
prophetischen Gesichtszüge. Dies sind die eigentlichen Wahrzeichen, 
die jeder wandernde Handwerksbursch beobachten soll. Die helfen 
ihm auf die Spur, was er zu erwarten hat. 
Findest du in einer Stadt viel Wirtshäuser, Wein-, Bier- oder 
Schnapsschenken, so verlaß dich darauf, da gibt's viel lustige Ge— 
sellen; aber am Zahltag betruͤbte Gesichter und selten häusliches 
Glück. Kommst du in eine Stadt, wo Kehrichthaufen auf den Straßen 
liegen, so zähle nicht viel auf Arbeit bei einem Meister. Denn wo 
Arbeit herrscht, da herrscht auch Ordnung. Wo die Glocken allzuoft 
läuten und Sonn- uͤnd Festtag kein Ende nehmen, versieh dich mit 
kleiner Münze; denn du wirst sie für die Bettler brauchen. Wo die 
Alten daheim arbeiten und die jungen Herren an den Wochentagen 
mit den Bürgertöchtern Lustpartien machen, kannst du Bankerotte 
prophezeien. Schließe nicht von vielen Kirchen und hohen Türmen 
eines Ortes auf viele und hohe Frömmigkeit daselbst; nicht von reichen 
Kleidern auf reiches Vermögen der Leute. Das und dergleichen sind 
Aushängeschilder; Wirtshäuser haben solche nicht allein in der Welt. 
Wo du dem Bauer nicht schon mit Sonnenaufgang bei der Feld— 
arbeit begegnest, sitzen gewiß abends viele beim Bier und Brannt— 
wein beisammen, lange nach Sonnenuntergang. Hast nicht nötig, um 
die Ringmauern der Stadt zu gehen oder auf den Turm zu steigen, 
um zu wissen, wie groß sie sei. Sie ist gewiß klein, wenn sich die 
Leute viel grüßen und abgegriffene Hüte tragen. Wächst aber Gras 
in den Gassen, so geh deines Weges. Du findest schwerlich bei einem 
Meister Arbeit, weil Handel und Wandel tot liegen. Kommst du in 
ein Land, wo jedes Städtchen eigene Schul- und Armenhäuser hat; 
wo nicht jedes Dorf weite Almenden, hingegen gutgedüngte Acker 
hält; wo die Landstraßen nicht mit Bettlern, aber mit Obstbäumen 
bepflanzt sind; wo Advokaten, Doktoren und Schenkwirte über schlechte 
Zeiten klagen: da, Veit, ruhe aus; die Leute haben Kopf und Herz 
am rechten Fleck. Siehst du zwischen prachtvollen Palästen viel 
altersschwache Häuser mit gebrochenen oder blinden Fensterscheiben, 
und fallsüchtige Hütten: da schlag ein Kreuz und geh vorüber. 
Ich habe dir jetzt genug gesagt; nicht daß ich dir alles gesagt 
hätte. Aber du kennst nun ungefähr die wirklichen Wahrzeichen, die 
ich meine. Folge meinem Rat. Wohin du kommst, frage viel, aber 
antworte wenig. Stelle dich unwissender, als du bist, und man wird 
dich gern unterrichten. 
Lobe jedes Lobenswerte; aber tadle nicht jedes Tadelnswerte 
und du wirst alle Herzen gewinnen, wenn's dir darum zu tun ist. 
Sei auf der ganzen Reise fromm, fleißig, sparsam, — bescheiden,
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.