Full text: Deutsches Lesebuch für städtische und gewerbliche Fortbildungsschulen

A. Deutscher Lebensspiegel. 
Um das Schloß aber begann eine Dornenhecke zu wachsen, die jedes 
Jahr höher ward und endlich das ganze Schloß so umzog und darüber 
hinauswuchs, daß gar nichts mehr, selbst nicht eine Fahne auf den 
Dächern zu sehen war. Es ging aber in dem Lande die Sage von dem 
schönen, schlafenden Dornröschen, denn so wurde die Königstochter genannt, 
also, daß von Zeit zu Zeit Königssöhne kamen und durch die Hecke in 
das Schloß dringen wollten. Es war ihnen aber nicht möglich; denn 
die Dornen hielten sich gleichsam wie an Händen zusammen, und sie 
blieben daran hängen und starben jümmerlich. Nach langen, langen 
Jahren kam wieder ein Königssohn durch das Land; dem erzählte ein 
alter Mann von der Dornenhecke; es solle ein Schloß dahinter stehen, in 
welchem ein wunderschönes Jungfräulein, Dornröschen genannt, mit dem 
ganzen Hofstaate schlafe. Er erzählte auch, daß er von seinem Groß— 
vater gehört habe, wie viele Königssöhne gekommen wären, um durch die 
Dornenhecke zu dringen, aber darin hängen geblieben und eines traurigen 
Todes gestorben seien. Da sprach der Jüngling: „Das soll mich nicht 
abschrecken; ich will hindurch und das schöne Dornröschen sehen.“ Der 
Alte mochte ihm abraten, wie er wollte, er hörte gar nicht darauf. 
4. Nun waren aber gerade an dem Tage, wo der Königssohn kam, 
die hundert Jahre verflossen. Und als er sich der Dornenhecke näherte, 
waren es lauter große, schöne Blumen, die thaten sich von selbst aus— 
einander, daß er unbeschädigt hindurchging; hinter ihm aber thaten sie 
sich wieder als eine Hecke zusammen. Er kam ins Schloß; da lagen im 
Hofe die Pferde und scheckigen Jagdhunde und schliefen; auf dem Dache 
saßen die Tauben und hatten das Köpfchen unter den Flügel gesteckt. 
Und als er ins Haus kam, schliefen die Fliegen an der Wand; der Koch 
in der Küche hielt noch die Hand, als wolle er den Jungen anpacken, 
und die Magd saß vor dem schwarzen Huhn, das gerupft werden sollte. 
Da ging er weiter und sah den ganzen Hofstaat daliegen und schlafen 
und oben drüber den König und die Königin. Da ging er noch weiter, 
und alles war so still, daß er seinen Aem hören konnte, und endlich kam 
er zu dem Turme und öffnete die Thür zu der kleinen Stube, in welcher 
Dornröschen schlief. Da lag es und war so schön, daß er die Augen 
nicht abwenden konnte, und er gab ihm einen Kuß. Wie er ihm den 
Luß gegeben, schlug Dornröschen die Augen auf, erwachte und sah ihn 
freundlich an. Da gingen sie zusammen hinab, und der König erwachte, 
und sie sahen einander mit großen Augen an. Und die Pferde im Hofe 
standen auf und rüttelten sich; die Jagdhunde sprangen und wedelten; die 
Tauben auf dem Dache zogen das Köpfchen unter dem Flügel hervor, 
sahen umher und flogen ins Feld ; die Fliegen an den Wänden krochen
	        
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