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des neunzehnten Jahrhunderts 100 000 Einwohner, jetzt über eine
halbe Million. Es sind nicht nur viel mehr Münchener geworden
sondern die Einwohnerschaft ist auch eine viel gemischtere. Ehe König
Ludwig 1. in den vierziger, fünfziger und sechziger Jahren Müuͤchen
zu einer Kunststadt machte, war es eine Landstadt, die allerdings
auch eine Königliche Residenz, einige Adelspaläste und ein zahl—
reiches Beamtentum neben ihren Kleinbürgern enthielt. Die haupt—
sächlichsten Gäste dieser Stadt aber waren Leute aus altbayerischen
Landen: die Getreidebauern, welche nach dem wichtigen Münchener
Getreidemarkt, der „Schranne“, ihre Brotfrucht mit laut schallender
Geißel hereinfuhren; die Viehhändler, welche für den Tisch der
Münchener ihre Ochsen und Kälber herzutrieben, und die Flößer
von Tölz und Lenggries, die den Münchenern Bau- und Brenn—
holz aus dem Oberlande herunterflößten und mit ihren spitzen
Hüten und den blanken Arten auf der Schulter einen tonangebenden
Teil der Münchener Bevölkerung bildeten. Der Umgang mit diesen
ständigen Gästen aus der Nachbarschaft mußte notwendig das Wesen
der damaligen Münchener stark beeinflussen. Das ganze Leben
war ein durchaus behäbiges, langsames. Der alte Münchener war
berühmt durch seine Gemütlichkeit, aber auch durch seine Derbheit;
es gab kein Proletariat, weil keine Großindustrie vorhanden war;
das Stadtvolk bestand bloß aus zünftigen Meistern und ihren Ge—
sellen, aus Kleinkrämern und ein paar Großkaufleuten, aus Staats—
und Hofbeamten und Soldaten, die alle ohne Rücksicht auf Rang—
und Bildungsunterschiede das gleiche Bier tranken und auf den
gleichen Bänken des Hofbräuhauses und der großen Bierkeller saßen.
Das wurde alles im Laufe von drei Generationen völlig
anders. Die Vergrößerung des bayerischen Staatswesens am An—
fang des neunzehnten Jahrhunderts ließ fränkische und schwäbische
Bevölkerungselemente in großer Zahl in die Beamten- und Ge—
schäftswelt eindringen; die Verlegung der Universität von Landshut
nach München brachte eine Fülle von geistiger Anregung; der Kunst—
sinn König Ludwigs 1. schuf wie mit einem Zauberschlage ein ganzes
Volk von Künstlern. Und als dann noch König Maximilian II.
eine Reihe berühmter Gelehrter und Schriftsteller aus ganz Deutsch—
land nach München berief, als nach der Erbauung der ersten Eisen—
bahnen der erste Zentner Steinkohle und der erste Fabrikarbeiter
in München einzog, war die Umgestaltung der Münchener Be—
völkerung besiegelt. Die Schrannenbauern und die Flößer verloren