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6. Wie sauber sehn die Kelchlein aus!“
So stecht's sein Züngelein hinein
Und trinkt und sagt: „Wie schmeckt’s so süss!
Der Zucker muss doch wohlfeil sein!"
7. Zum Sommer sprach der liebe Gott:
„Deck auch dem Spätzlein seinen Tisch!“
Darauf der Kirschbaum Früchte trug,
Viel tausend Kirschen rot und frisch.
8. Und’s Spätzlein sagt: „Ist’s so gemeint,
Da nimmt man Platz und fragt nicht lang.
Das giebt mir Kraft in Mark und Bein
Und stärkt die Kehle zum Gesang.“
9. Zum Spätherbst sprach der liebe Gott:
„Räum ab, sie haben alle jetzt!“
Drauf kam die kühle Bergesluft,
Und schon hass kleinen Reif gesetzt.
10. Die Blätter werden gelb und rot
Und fallen bei des Windes Wehn,
Und was vom Boden aufwärts kommt,
Muss auch zum Boden abwärts gehn.
11. Zum Winter sprach Gott zum Beschluss:
„Deck wacker zu, was übrig ist!“
Da streut er Schnee im Überfluss.
Johann Peter Hebel.
29. Nachlässigkeit.
Eine fleißige Mutter baute in ihrem Garten Gemüse aller Art.
Eines Tages sagte sie zu ihrer kleinen Tochter: „Lischen, siehe da an der
unteren Seite des Kohlblattes die kleinen, netten, gelben Tüpfelchen. Das
sind die Eier, aus welchen die schönfarbigen aber verderblichen Raupen
kommen. Suche diesen Nachmittag alle Blätter ab und zerdrücke die Eier,
so wird unser Kohl immer schön grün und unversehrt bleiben."
Lischen meinte/ zu dieser Arbeit sei es immer noch Zeit, und dachte
am Ende gar nicht mehr daran. Die Mutter war einige Wochen nicht
wohl und kam nicht in den Garten. Als sie aber wieder gesund war,
nahm sie das saumselige Mädchen bei der Hand und führte es zu den
Kohlbeeten und siehe! aller Kohl war von den Raupen abgefressen. Man
sah nichts mehr als die Stengel und Gerippe der Blätter. Das er¬
schrockene und beschämte Mädchen weinte über seine Nachlässigkeit. Die
Mutter aber sprach: „Thue künftig das, was heute geschehen kann, sogleich
heute und verschiebe es niemals auf morgen." Christoph von Schmid.