er fortwährend hinter dem Rücken des Vaters herfliegen? Er
war ja der neuerlernten Kunst so gewiß! Ein wenig durfte er
doch wohl der Freiheit genießen. Indem er so dachte, schwang er
sich, die Warnung des Vaters gänzlich vergessend, höher hinauf.
Aber o weh, dort oben wehte ein heftiger Wind, der ihn immer
weiter hinauf trug, der Sonne, der glühenden Sonne zu! Jetzt
erfaßte ihn Reue und Angst; er versuchte, wieder tiefer hinab¬
zukommen, aber es war zu spät! Die heißen Strahlen erweichten
das Wachs und versengten die zarten Flaumfedern. Die Fittiche
lösten sich auf und sanken schlaff über die Schultern hinunter.
Noch ruderte der arme Knabe, während Angstschweiß seine Glieder
bedeckte, weiter; aber er schwang ja nur die bloßen Arme und
konnte mit ihnen keine Luft fassen. „Lieber Vater, hilf mir!"
schrie er auf. Aber indem er es rief, stürzte er jählings hinab
und versank in der tiefen Meeresflut.
Der Vater hatte den Todesschrei vernommen; blitzschnell
wandte er sich um, aber da war nichts mehr zu sehen; sein liebes,
einziges Kind war verschwunden. Da irrte er nun im Luftraum
suchend umher und rief laut jammernd: „Ikaros, mein Ikaros,
wo bist du?" Endlich sah er tief unten auf dem Meeresspiegel zer¬
streute Federn schwimmen. Er flog hinab auf das Gestade einer
kleinen Insel, die in der Nähe lag. Dort legte er seine Flügel ab
und ging lange trostlos am Ufer hin und her, bis die Wellen den
Leichnam seines armen Kindes ans Land spülten. Unter heißen
Tränen grub der alte Vater ein Grab, legte seinen toten Sohn
hinein und baute ein schönes Grabmal darüber. Dann setzte er
einsam und allein seine lange Reise fort. Das Eiland aber, wo
er den Ikaros bestattet hatte, hieß seitdem Jkaria.
Daidalos kam endlich wieder an den Hof eines Königs, schuf
noch manches herrliche Kunstwerk und genoß.bei allen Menschen
großen Ruhm. Wer seine Werke sah, der freute sich an ihrer
Schönheit. Aber er selber hatte keine Freude mehr am Leben,
sondern brütete in Gram und Trübsinn dahin, bis er zuletzt auf
der Insel Sizilien starb. So mußte Daidalos die Mordtat büßen,
die er aus Neid und Eifersucht an seinem unschuldigen Schüler
Verübt hatte. Gotthold Klee.
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