Full text: [Teil 3 = 4. Schuljahr, [Schülerband]] (Teil 3 = 4. Schuljahr, [Schülerband])

er fortwährend hinter dem Rücken des Vaters herfliegen? Er 
war ja der neuerlernten Kunst so gewiß! Ein wenig durfte er 
doch wohl der Freiheit genießen. Indem er so dachte, schwang er 
sich, die Warnung des Vaters gänzlich vergessend, höher hinauf. 
Aber o weh, dort oben wehte ein heftiger Wind, der ihn immer 
weiter hinauf trug, der Sonne, der glühenden Sonne zu! Jetzt 
erfaßte ihn Reue und Angst; er versuchte, wieder tiefer hinab¬ 
zukommen, aber es war zu spät! Die heißen Strahlen erweichten 
das Wachs und versengten die zarten Flaumfedern. Die Fittiche 
lösten sich auf und sanken schlaff über die Schultern hinunter. 
Noch ruderte der arme Knabe, während Angstschweiß seine Glieder 
bedeckte, weiter; aber er schwang ja nur die bloßen Arme und 
konnte mit ihnen keine Luft fassen. „Lieber Vater, hilf mir!" 
schrie er auf. Aber indem er es rief, stürzte er jählings hinab 
und versank in der tiefen Meeresflut. 
Der Vater hatte den Todesschrei vernommen; blitzschnell 
wandte er sich um, aber da war nichts mehr zu sehen; sein liebes, 
einziges Kind war verschwunden. Da irrte er nun im Luftraum 
suchend umher und rief laut jammernd: „Ikaros, mein Ikaros, 
wo bist du?" Endlich sah er tief unten auf dem Meeresspiegel zer¬ 
streute Federn schwimmen. Er flog hinab auf das Gestade einer 
kleinen Insel, die in der Nähe lag. Dort legte er seine Flügel ab 
und ging lange trostlos am Ufer hin und her, bis die Wellen den 
Leichnam seines armen Kindes ans Land spülten. Unter heißen 
Tränen grub der alte Vater ein Grab, legte seinen toten Sohn 
hinein und baute ein schönes Grabmal darüber. Dann setzte er 
einsam und allein seine lange Reise fort. Das Eiland aber, wo 
er den Ikaros bestattet hatte, hieß seitdem Jkaria. 
Daidalos kam endlich wieder an den Hof eines Königs, schuf 
noch manches herrliche Kunstwerk und genoß.bei allen Menschen 
großen Ruhm. Wer seine Werke sah, der freute sich an ihrer 
Schönheit. Aber er selber hatte keine Freude mehr am Leben, 
sondern brütete in Gram und Trübsinn dahin, bis er zuletzt auf 
der Insel Sizilien starb. So mußte Daidalos die Mordtat büßen, 
die er aus Neid und Eifersucht an seinem unschuldigen Schüler 
Verübt hatte. Gotthold Klee. 
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