Full text: Klasse 7 (viertes Schuljahr) (Teil 3, [Schülerband])

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Als die Sonne sank, kam der Kyklop mit der Herde zurück, 
trieb sie in die Ställe, setzte den Block wieder vor die Höhle und 
begann die Tiere zu melken. Darauf streckte er die Hand aus, 
ergriff zwei von den Griechen, schlug sie mit den Köpfen auf den 
Boden und verschlang sie. Jetzt aber faßte sich Odysseus ein Herz. 
Aus dem mitgebrachten Schlauche füllte er einen großen Holzbecher 
mit rotem Weine, reichte ihn dem Riesen hin und sagte: „Nimm, 
Kyklop, und trink! auf Menschenfleisch schmeckt nichts besser als 
Wein. Du sollst wenigstens wissen, was wir auf unserm Schiffe 
für ein köstliches Getränk hatten. Eigentlich rettete ich den Schlauch 
nur dazu, um ihn dir als Gastgeschenk zu verehren; aber zu un¬ 
menschlich hast du an uns gehandelt." 
Der Riese erwiderte nichts, nahm den Becher aus Odysseus’ 
Hand und trank ihn aus. Über sein häßliches Gesicht flog ein 
behagliches Grinsen, er schmatzte laut, offenbar mundete ihm das 
süße Getränk über die Maßen wohl. „Lieber," sprach er dann zu 
Odysseus mit abscheulichem Lächeln, „schenk mir noch einmal 
ein und sage mir, wie du heißest, damit ich dir auf der Stelle deine 
Gabe mit einem Gastgeschenk vergelten kann." Da schenkte ihm 
Odysseus nochmals und zum dritten Male den Becher voll. Der 
feurige Trank stieg dem tölpischen Narren sogleich ins Gehirn, doch 
er merkte nichts von der List und fragte wiederum mit täppischer 
Freundlichkeit nach dem Namen des Helden. Da sagte der kluge 
Odysseus: „Ach, Kyklop, meinen Namen willst du wissen? Gern 
sag’ ich ihn nicht, denn er ist so wunderlich, daß ich mich seiner 
fast schäme. Doch was hilft’s? Meine Eltern gaben ihn mir und 
nicht ich selber. Wisse, ich heiße Niemand!" „Niemand?" rief der 
Kyklop lachend, „nun, mein lieber Niemand, so will ich dir denn 
das versprochene Gastgeschenk geben, zum Dank für deinen treff¬ 
lichen Wein. Siehst du, Freundchen, niemand will ich von euch allen 
zuletzt verspeisen. Bist du zufrieden?" Nach diesen Worten schlug 
er noch ein rohes Gelächter auf, dann taumelte er rücklings hin 
und fing sogleich an, entsetzlich zu schnarchen. 
Nun winkte Odysseus schnell seine Gefährten herbei und redete 
ihnen Mut ein. Sie hielten den Pfahl mit der Spitze ins Feuer, 
bis sie rot glühte, dann zogen sie ihn zurück, Odysseus faßte 
ihn der Spitze zunächst, die andern griffen hinter ihm zu, und nun 
stießen sie mit vereinten Kräften. Odysseus lenkte den Stoß. Zischend
	        
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