Full text: Lesebuch für landwirtschaftliche Winter- und Fortbildungsschulen

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72. Dornröschen. 
Vor Zeiten war ein König und eine Königin, die sprachen jeden 
Tag: „Ach, wenn wir doch ein Kind hätten!“ und kriegten immer keins. 
Endlich aber bekamen sie ein so schönes Mädchen, daß der König vor Freude 
sich nicht zu lassen wußte und ein großes Fest anstellte. Er lud nicht 
bloß seine Verwandten, Freunde und Bekannten, sondern auch die weisen 
Frauen dazu ein, damit sie dem Kinde hold und gewogen würden. Es 
waren ihrer dreizehn in seinem Reiche; weil er aber nur zwölf goldene 
Teller hatte, von welchen sie essen sollten, konnte er eine nicht einladen. 
Die geladen waren, kamen, und nachdem das Fest gehalten war, beschenk— 
ten sie das Kind mit ihren Wundergaben: die eine mit Tugend, die andere 
mit Schönheit, die dritte mit Reichtum, und fo mit allem, was Herrliches 
auf der Welt ist. Als elf ihre Wünsche eben gethan hatten, kam die drei— 
zehnte herein, die nicht geladen war und sich dafür rächen wollte. Sie 
rief: „Die Königstochter soll sich in ihrem fünfzehnten Jahre an einer 
Spindel stechen und tot hinfallen.“ Da trat die zwölfte hervor, die noch 
einen Wunsch übrig hatte; zwar konnte sie den bösen Ausspruch nicht auf— 
heben, aber sie konnte ihn doch mildern und sprach: „Es soll aber kein 
Tod sein, sondern ein hundertjähriger tiefer Schlaf, in den die Königs— 
tochter fällt.“ 
Der König hoffte, sein liebes Kind noch vor dem Ausspruche zu be— 
wahren, und ließ den Befehl ausgehen, daß alle Spindeln im ganzen 
Königreich sollten abgeschafft werden. An dem Mädchen aber wurden alle 
Gaben der weisen Frauen erfüllt, denn es war so schön, sittsam, freund— 
lich und verständig, daß es jedermann, der es ansah, lieb haben mußte. 
Es geschah, daß an dem Tage, wo es gerade fünfzehn Jahre alt war, 
der König und die Königin nicht zu Hause waren und das Fräulein ganz 
allein im Schlosse zurück blieb. Da ging es aller Orten herum, besah 
Stuben und Kammern, wie es Lust hatte, und kam endlich auch an einen 
alten Turm. Es stieg eine enge Treppe hinauf und gelangte zu einer 
kleinen Thüre. In dem Schlosse steckte ein gelber Schlüssel und als sie 
umdrehte, sprang die Thüre auf, und saß da in einem kleinen Stübchen 
eine alte Frau und spann emsig ihren Flachs. „Ei du altes Mütter— 
chen“, sprach die Königstochter, „was machst du da?“ „Ich spinne,“ 
sagte die Alte und nickte mit dem Kopfe. „Was das Ding herumspringt!“ 
sprach das Fräulein und nahm die Spindel und wollte auch spinnen. 
Kaum hatte sie die Spindel angerührt, so ging die Verwünschung des 
Zauberweibes in Erfüllung, und sie stach sich damit. 
In dem Augenblicke aber, wo sie sich gestochen hatte, fiel sie auch 
nieder in einen tiefen Schlaf. Und der König und die Königin, die eben 
zurückgekommen waren, fingen an mit dem ganzen Hofstaat einzuschlafen. 
Da schliefen die Pferde im Stalle ein, die Hunde im Hofe, die Tauben 
auf dem Dache, die Fliegen an der Wand, ja, das Feuer, das auf dem 
Herde flackerte, ward still und schlief ein, und der Braten hörte auf zu 
brutzeln, und der Koch, der den Küchenjungen, weil er etwas versehen
	        
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