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Die Frau in Gemeinde und Staat.
142. Denn Mutter auf Arbeit geht ...
Wo bleiben die Kinder, wenn Mutter auf Arbeit geht? Diese Frage
wird in all den Familien aufgeworfen, in denen die Frau und Mutter sich
gezwungen sieht, außer dem Hause einem Verdienst nachzugehen. Sie wird
auf mancherlei Weise gelöst. — Vom Leben und Treiben in einem Fabrikkinder—
garten, von dem Verkehr zwischen der Kindergärtnerin und ihren Zöglingen
und von den verschiedenen Beobachtungen, die sich der Erzieherin im Fabrik⸗
kindergarten aufdrängen, will ich heute erzählen.
Früh am Morgen — in der Baumwollspinnerei, deren Kindergarten ich
leite, war es um sechs Uhr — erschienen die Kleinen, im Sommer meist frisch,
aber im Winter viele müde, verschlafen und ausgefroren. Viele sorgliche Mütter
hatten darauf gehalten, daß das Kind zu Hause etwas Warmes genoß, ehe es
hinausging, manche aber nahmen sich nicht die Zeit dazu. Und so mußte es erste
Aufgabe der freundlichen Aufwartefrau im Kindergarten sein, die Hungrigen
mit Milch und Brot zu stärken, die Frierenden zu erwärmen, den Müden
noch ein Schläfchen zu gönnen, die in der frühen Morgenstunde Reizbaren zu
beschwichtigen, die Verdrossenen zu erheitern. Allmählich taute man auf, und
nach der Speisung entwickelte sich ein fröhliches Freispiel Um sieben Uhr kam
die Kindergärtnerin, als Tante allseitig mit einem frohen „Guten Morgen“
begrüßt. Gleich waren immer einige Kinder zur Stelle, die etwas zu erzählen
hatten, denn an all ihren kleinen Freuden und Leiden mußte die Tante teil—
nehmen, und diese kindliche Mitteilsamkeit gestattete manch tiefen Blick in das
häusliche Leben der Arbeiterfamilien zu tun, von dem später noch gesprochen
werden soll. Nun wurde ein gemeinsames Morgenlied gesungen, und dann
mußten die Schulkinder, die in dem erwähnten Kindergarten auch bis zu
zehn Jahren mit versorgt wurden, zur Schule geschickt werden. Die zurück—
bleibenden Kleinen vergnügten sich dann beim Anhören oder gar Darstellen
einer Geschichte, bei der Betrachtung eines großen Anschauungsbildes, mit
Ball- und Fingerspielen und ähnlichem. An schönen Sommertagen wurde
wohl auch ein Morgenspaziergang unternommen; breiteten sich doch gleich
hinter der Fabrik weite Felder aus. Im Sommer war es auch ein Haͤupt.
vergnügen, das zweite Frühstück, bestehend aus Milch und Semmeln, im nahe—
gelegenen Garten zu verzehren, wo dann auch der große Sandhaufen reiche
Gelegenheit zu Spiel und Beschäftigung bot. Dieser Garten — boshafte Leute
nannten ihn einen Sandplatz mit einer Holzhalle — zeigte so techt, was
menschliche Mühe vermag. Hatten doch längs der Mauer irotz des schlechten
Bodens viele Kinder ihre kleinen Beete bearbeitet. Auf einigen davon gediehen
gar Erbsen und Bohnen bis zur Ernte. Groß war die Freude, als ein Beet
mit guter Erde hergerichtet wurde, in dem dann Sommerrosen in einer für
die allgemeinen Verhältnisse geradezu üppigen Pracht gediehen. Dann nistete
in der „Laube“ gar ein Rotschwänzchenpaar. Was verlangten wir Großstadt
kinder mehr von unserm Garten? Dort wurden auch im Winter Schneeball—
schlachten geschlagen und zu Ostern die Ostereier gesucht. Wenn aber das
Wetter den Aufenthalt im Garten nicht erlaubte, so wurde doch täglich ein
kleiner Spaziergang gemacht. Dabei muͤßten die größeren Kinder freilich, wie
ja auch bei allen Spielen, viel Rücksicht auf die Kleinen nehmen, die ja nur
langsam gehen konnten und ein wahres Schneckentempo angaben. Da war es
nun ein wirkliches Fest, wenn manchmal an schulfreien Tagen die Kleinen
unter der Obhut der Aufwartefrau blieben und die Tante mit den Großen —
vom fünften Jahre an war man groß — allein spazieren ging, vielleicht gar