Leberecht Hühnchen als Großvater. 
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mich!“ Nun sagte das Mählamm zum Kamm: ‚Komm, Kamm, komm, kämme 
mich!“ Aber gleich sagte auch der Wauwau zum Kamm: ‚,Nein, Kamm, komm, 
kämme mich!“ Da taten Kamm und Bürste sich in ihr Futteral und sprachen: 
„Alles zu seiner Zeit! Geduld, Geduld, verlaß mich nicht!“ 
Von den vielen Versen, die er auswendig konnte und den Kindern zu 
ihrem Jubel vorsang und vorsagte, will ich nur ein kleines Gedicht mitteilen, 
das mir bemerkenswert ist, weil es mir vorkommt, als müßte der Verfasser 
Hühnchens gekannt und sie unter dem Bilde dieser Vogelfamilie dargestellt 
haben. Es lautete: 
Bei Goldhähnchens. 
Bei Goldhähnchens war ich jüngst zu Gast. 
Sie wohnen im grünen Fichtenpalast 
in einem Nestchen klein, 
sehr niedlich und sehr fein. 
Was hat es gegeben? Schmetterlingsei, 
Mückensalat und Gnitzenbrei 
und Käferbraten famos — 
zwei Millimeter groß. 
Dann sang uns Vater Goldhähnchen was: 
so zierlich klang's wie gesponnenes Glas. 
Dann wurden die Kinder besehn: 
sehr niedlich alle zehn. 
Dann sagt' ich: „Adieu!“ und: „Danke sehr!“ 
Sie sprachen: „Bitte, wir hatten die Ehr' 
und hat uns mächtig gefreut.“ 
Es sind doch reizende Leut'! 
Und was konnte Großpapa nicht alles machen! Das erste war, wenn er 
kam, daß ihm alle Invaliden gebracht wurden, an denen es in einer Kinder— 
stube nie fehlt, und daß er sich den Fischleimtopf holte. Hühnchen brachte sie 
alle zurecht; er setzte den Pferden neue Beine an, und den Wagen gab er die 
Räder wieder. Soldaten, die höchst unmilitärischerweise ihre Gewehre verloren 
hatten, bewaffnete er aufs neue, und kein Tier in der Arche Noahs gab es, 
das nicht schon einmal in seiner Kur gewesen wäre. Wolfgang hatte aber auch 
einen solchen felsenfesten Glauben an die unfehlbare Kunst seines Großvaters, daß 
einst, als ein kleiner Knabe bei einem wilden Straßenspiele das Bein gebrochen 
hatte und die Mutter darüber weinte und lamentierte, er auf diese zuging und 
sagte: „Nich weinen, Frau! Großpapa mit Fischleim wieder heil machen!“ 
Unter Hühnchens Fingern ward jedes Stückchen Papier zum Spielzeug 
und nahm hunderterlei Form und Gestalt an, und was für komische Männchen 
und Tiere, Mützen und sonstige Dinge er aus einem Taschentuch gestalten 
konnte, war einfach unglaublich. Gab man ihm eine Anzahl schwedischer Streich⸗ 
holzschachteln, ein wenig steifes Papier, ein bißchen Zwirn, einige Streichhölzer, 
etwas Siegellack und eine Schere, so machte er daraus die halbe Welt. Jedes 
Weihnachtsfest und jeder Gebuͤrtstag brachte ein neues Bilderbuch seiner Fabrik, 
wozu er die Bilder aus illustrierten Journalen, Anzeigen und dergleichen 
sammelte und sorgfältig in einen Band aus steifem Papier klebte. Komische 
Unterschriften oder kleine selbstgemachte Verse bildeten den Text zu diesen Bilder⸗ 
büchern. Im Hühnchenschen Hause kam überhaupt nichts um. Jedes Stückchen 
Arbeit und Leben.
	        
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