340 Curtius: Die antike Kunst in ihrer Beziehung zur modernen Bildung.
es vermissen. Oft sind nur die nackten Muskeln gegeben, als wäre die
Haut und die darunter liegende Fettlage abgerissen; oft erscheint die Ober¬
fläche so glatt gearbeitet, als läge nichts darunter. Dann wieder ver¬
schiedene Behandlung bei Bronze und Marmor. Und endlich nach den
Marmorarten selbst eine verschiedene Auffassung der Gestalten. Gröberer
Stein ward anders behandelt als feiner. Bei jenem größere, glattere
Flächen, leichtere Schatten, sanftere Ränder; hier tiefere Einbohrungen,
schärfere Kanten, feine Nüaneierung der Flächen. Eine solche Virtuosität
besaßen die Griechen, in Rücksicht auf das Material und den Gegenstand
das durchaus Richtige jedesmal zu tun, daß fast alle bedeutenden Werke, die
erhalten blieben, in irgend etwas eine Abweichung in der Behandlung
erkennen lassen. Eins aber ist ihnen allen gemeinsam, und das unter¬
scheidet sie von den römischen Werken, d. h. von den Arbeiten, die Jahr¬
hunderte nach der ersten Blüte der alten griechischen Skulptur durch spätere
griechische Künstler im Dienst der Römer geschaffen wurden: jedes scheint
hervorgegangen aus unmittelbarer Kenntnis der Natur und liebevoll zu ihr
zurückkehreuder Anschauung.
43. Die antike Kunst in ihrer Beziehung zur modernen Bildung.
Von Ernst Curtius. Westermanns Monatshefte. Braunschweig, 1882.
Wir verstehen unter Kunst eine Tätigkeit des Menschen, und zwar in
zwiefachem Sinne. In weiterem Sinn bezeichnet das Wort jedes Können,
dem eine gewisse Technik zugrunde liegt, die man sich aneignen muß. So
spricht man z. B. von der Buchdruckerkunst. Was wir Kunst nennen, ist
etwas ganz anderes.
Es ist eine Tätigkeit, welche sich von jeder anderen sehr bestimmt
unterscheidet. Sie ist erstens eine Tätigkeit ohne einen außer ihr liegenden
Zweck; sie wird durch keine äußere Nötigung, durch kein praktisches Be¬
dürfnis hervorgerufen. Menschen und Völker können ihr Leben lang ohne
Kunst bestehen, und bei den Nationen, deren Energie vorzugsweise der Er¬
ledigung praktischer Aufgaben gewidmet war, wie bei den Römern, hat
man sie deshalb als etwas, das man tun und lassen kann, ein Spiel ge¬
nannt. Sie unterscheidet sich aber von jedem willkürlichen Zeitvertreib da¬
durch, daß sie, wo sie zu Hause ist, mit einer inneren Notwendigkeit in
Menschen und Völkern entsteht; das ist der Kunsttrieb, eine Bewegung des
Gemüts, die aus der Tiefe kommt und keine andere Beruhigung findet als
in der Herstellung eines Kunstwerks. Diese Bewegung ist eine unwillkür¬
liche; darum wurde sie im Altertum aus einer unmittelbaren Einwirkung