Full text: Lesebuch für die Königlich Preußischen Unteroffizierschulen

E. Bilder aus der vaterländischen Sage und Geschichte. 
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dich aber verlassen, so wäre ich lieber tot. — Da heißt nach höfischer Sitte 
Gunther auf Gernots Antrieb Siegfried herantreten, daß er ihre Schwester 
begrüße. Und der Held tritt heran und neigt sich minniglich vor der Jung⸗ 
frau; da zieht sie zu einander der sehnenden Minne Zwang, und mit liebenden 
Blicken sehen sie verstohlen einander an. Noch aber wird kein Wort gewechselt, 
bis nach der Messe, mit der das Fest begann, die Jungfrau dem Helden Dank 
sagt für den tapfern Beistand, welchen er ihren Brüdern geleistet „Das ist 
Euch zu Dienste geschehen, Frau Kriemhild“, antwortet Siegfried, und nun, 
nachdem der Mund sich auch etwas getrauet, bleibt Siegfried zwölf Tage, die 
Dauer des Ritterfestes über, in der Nähe des minniglichen Mägdleins. Dann 
ziehen die fremden Gäste von dannen, auch Siegfried rüstet sich zur Heim— 
fahrt; „denn er getraute sich nicht zu erwerben, wozu er Mut hatte“, d. h. 
was er wünschte. Doch leicht läßt er sich durch die Zureden des jungen 
Giselher bestimmen, noch länger da zu verweilen, wo er, wie das Lied ireu— 
herzig sagt, am liebsten war und wo er täglich die schöne Kriemhild sah. 
Um die Hand der Geliebten endlich zu erringen, fährt Siegfried dann 
mit Gunther über die See nach dem Isenstein, wo er dem Könige die Brun— 
hild erkäümpft. Es wird zur Heimfahrt gerüstet, und nachdem Siegfried erst 
noch sein Nibelungenreich besucht, Mannen von dort aufgeboten und reiche 
Schätze mitgenommen, fahren die Helden, Siegfried als Verkünder des ge— 
wonnenen Siegs und der heimkommenden Königin des Landes voran, über 
die See und den Rhein aufwärts nach Worms zurück. Das Ziel ist erreicht. 
Wie Brunhild mit Gunther, so wird Kriemhild mit Siegfried verlobt; in des 
Helden Arme wird das minnigliche Kind gelegt, und im Angesichte der Könige 
und der zahlreichen Gefolgsherren giebt und empfängt die Braut den ersten, 
den Verlobuͤngskuß. 
Aber den Glücklichen gegenüber sitzt finstern Antlitzes das andere Paar, 
Gunther und Brunhild; Thrämen fallen über die lichten Wangen der schönen, 
hohen Brunhild. Erstaunt und besorgt, weil schlagenden Gewissens, fragt 
Gunther nach der Ursache der Thränen; und Brunhild giebt zur Antwort: 
„Um Kriemhild, deine Schwester, weine ich, daß du sie nicht einem Könige, 
sondern einem deiner Mannen gegeben und durch die Heirat mit einem Eigen 
holden erniedrigt hast.“ — „Seid still, schöne Frau“, entgegnete Gunther, „das 
will ich Euch zu anderer Zeit erzählen, warum ich Siegfried meine Schwester 
gegeben habe; sie wird mit diesem Helden ein fröhliches Leben führen.“ 
Ahnungsvoll schreitet unser Lied weiter; der erste Schritt zur Erfüllung 
des bangen Traums der schönen Kriemhild, mit dem das Gedicht begann, ist 
geschehen: Brunhildens Eifersucht ist erweckt. Rasch folgt der zweite Schritt. 
Noch aber schlummert das aus der Tiefe heraufbeschworene Unheil. 
Fröhlich zieht Siegfried mit der jungen Gemahlin in die Heimat zu Sieg— 
mund und Siegelinde, dem lieben Elternpaare. Siegmund tritt dem Sohne 
Krone und Reich, Gericht, Land und Leute ab. Kriemhild genest eines Sohnes, 
nach dem Oheim Gunther genannt — wie auch Brunhild einen Sohn gebiert, 
der Siegfried genannt wird — und zehn Jahre genießen die Glücklichen ihres 
Glücks n tiefem Frieden und seliger Ruhe, Siegfried, der über Niederland 
wie über das entferntere nordische Reich der Nibelungen und über unermeß— 
liche Schätze gebot, der reichste und mächtigste der Könige, Kriemhild die 
schönste, die gluͤcklichste der Königinnen. i 
Alein in dem Herzen der starken Brunhilde ist die brennende Glut auch 
im Laufe der zehn Jahre nicht erloschen. „Wie?“ fragte sie oft ihren Gemahl, 
„wie? Darf Kriemhild so stolz gegen uns sich halten, daß sie in der langen 
Lesebuch f. d. Unteroffizierschulen. U. 
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