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5. Als Versmaß des Epos eignet sich
vornehmlich der Hexameter, insofern dieser
durch den in gleichmäßigem Fortschritt
dahingleitenden Rhythmus und in seiner
stetigen Wiederholung der Würde des Epos
entspricht, der Wort- und Gedankenfülle den
nötigen Raum gewährt und hinwiederum
durch die Möglichkeit mannigfach veränder¬
licher Formen der Eintönigkeit vorbeugt.
Einen ähnlichen Charakter zeigt die alte
Nibelnngenstrophe, während die Reimpaare
des höfischen Epos leicht eintönig werden.
Dasselbe gilt von dem französischen Alexan¬
driner. Die Italiener haben sich der Terzine
und der Stanze bedient; die erstere zeigt
die Stetigkeit und Geschlossenheit des Epos,
die letztere hat mehr lyrische Färbung.
6. Hauptgattnngen des Epos sind das
Bvlksepos und das Kunstepos. Der
Stoff des Volksepos ist die Götter- und
Heldensage aus der Jugendzeit der Völker;
es gilt als Ausfluß der Denk- und An¬
schauungsweise eines ganzen Volkes, in dessen
Gesamtheit die Individualität des Dichters
sich verliert; daher sind die Namen der Ver- '
fasser meist unbekannt Das Kunstepos ge¬
stattet der Erfindung des Dichters freieren
Spielraum und gilt als Ausfluß des mit
Bewußtsein schaffenden Dichtergeistes. Zur
Gattung des Kunstepos gehören: 1. das
historische Epos, das den Stoff der
Geschichte entnimmt oder doch die Begeben¬
heit auf den« Hintergründe geschichtlicher Er¬
eignisse sich abspielen läßt; 2. das roman¬
tisch e E p o s, das sich in dem abenteuerlichen
Ritterleben des Mittelalters betvegt und das
Interesse mehr an einzelne Personen als an
eine wirkungsreiche Größe der Begebenheit
knüpft; 3. das religiöse, 4. das bürger¬
liche und 5. das komische Epos.
Anmerkung l. Die bedeutendsten Volks¬
epen sind die „Ilias" und die „Odyssee",
das „Nibelungenlied" und die „Kudrun".
Zn den historischen Epen gehören Vergils
,.Änöis",Camoöns' „Lusiaden", Torquato
Tassos „Befreites Jerusalem", zu den
romantischen ,,Erek" und „Jwein" von
Hartmann von Aue, „Parzival" von
Wolfram von Eschenbach, „Tristan und
Isolde" von Gottfried von Straßburg,
Ariosts „Rasender Roland", Wielands
„Oberon". Als religiöse Epen sind zu
nennen: Dante Alighieris „Göttliche Ko¬
mödie", Miltons „Verlorenes Paradies",
Klopstocks „Messias". Von komischen Epen
mögen genannt werden: Die „Batracho-
myomachie" und Kortums „Jobsiade".
Als bürgerliche Epen sind zu bezeichnen:
Voß' „Luise" und Goethes „Hermann
und Dorothea".
Buschmann, Leseb. f. d. ob. Kl. II. IN. Anst.
Anmerkung 2. In das Gebiet des Volks¬
epos gehört in seiner ursprünglichen, von
didaktischen und satirischen Absichten freien
Form auch das sogenannte Tierepos.
Anmerkung 3. Mit dem Epos verwandt
sind der R o m a n und die Novelle,
Dichlungsarten, die sich der prosaischen
Form bedienen. Der Roman ist die
Erzählung einer Reibe von frei erfun¬
denen oder, wenn der Wirklichkeit ent¬
nommen, dichterisch frei gestalteten und
zu einem einheitlichen Ganzen verbun¬
denen Begebenheiten, die in breiter Aus¬
führung ein Bild der Zeit und ihrer
Kultur enthalten Der Roman ist die
Frucht eines gesteigerten Kulturlebens;
sein Stoff ist nicht der Sage, sondern
der Geschichte oder der unmittelbaren
Gegenwart entlehnt. Der Held des Ro¬
manes steht im Gegensatze zu den ihn
umgebenden Lebensverhältnissen; daraus
entwickelt sich ein Konflikt, der mit dem
Siege oder dem Untergange des Helden
endet. In diesem Kampfe tritt wohl
als Motiv der launige Zufall an die
Stelle des Wunderbaren oder der höheren
Mächte. Man unterscheidet historische
oder Zeitromane; letztere gliedern sich
wieder in Salonromane, Volksromane
(wozu auch die sogenannten Dorfgeschichten
gehören), Familienromane, soziale Ro¬
mane u. a.m. Nach der Auffassnngs- und
Darstellungsweise lassen sich unterscheiden
der ernste, der sentimentale, der scherz¬
hafte, der humoristische und der Tendenz¬
roman. — Die Novelle unterscheidet sich
vom Roman durch kleineren Umfang und
Beschränkung auf einen engeren Lebens¬
kreis, in der Darstellung durch einen
rascheren Gang und lebhaftes Vordringen
zur Entwicklung.
2. Kleinere epische GeLichte.
Zu den kleineren epischen Gedichten ge¬
hören: 1. die poetische Erzählung und die
Idylle, 2. das Märchen, die Sage, die
Mythe und die Legende, 3. die Ballade
unb Romanze.
1. Die poetische Erzählung ist die
Darstellung einer dein tvirklichen Leben
entnommenen oder doch dem wirklichen
Leben entsprechenden Begebenheit in poe¬
tischer Form. Der Stoff muß der dichte¬
rischen Behandlung angemessen, ansprechend,
die Darstellung lebendig sein. Ist die poe¬
tische Erzählung komischen Inhalts, so
nennt man sie Schwank.
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