Full text: [Teil 1, [Schülerband]] (Teil 1, [Schülerband])

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And, als wir vorübergiengen, noch einen dichten und durch die Kanten des 
heiligen Denkzeichens scharf begrenzten Uebcrzug bildeten. 
,Ei,' sagte ich da zu meinem Reisegefährten, .welch ein Unterschied 
zwischen den zwei Hauptseiten dieses Kreuzes! Ist es nicht, als wenn die 
dunkle dem Charfreitag und die andere dem Osterfeste angehörte?' 
.Ja, mein Herr,' sagte der Führer, der mit mir stehen geblieben war, 
.dieses Kreuz hat überhaupt zivei sehr verschiedene Seiten. Wenn ich im 
Lande zu gebieten hätte, so würde ich an die Stelle, welche nach Kärnten 
hinunterschaut, schreiben laßen: .Herr, so du willst, kannst du mich gesund 
machen.' Denn die Gichtbrüchigen, die aus dem Kärntner Lande oder noch 
weiter her auf diesem Wege nach Gastein getragen werden, pflegen sich auf 
dieser Seite des Kreuzes noch einmal niedersetzen zu laßen und zu beten, che 
es über die Scheidcck weg und den Berg hinuntergeht, über den sie oft gar 
nicht mehr zurückkommen oder, was noch schlimmer ist, ohne Hoffnung aus 
Beßerwerden. Diejenigen Leute aber, welche aus dein Bade ihre wiedcrge- 
schenkte Gesundheit oder die Hoffnung bringen, bald zu genesen, pflegen 
aus jener Seite niederzufallen, wie der Aussätzige vor den: Herrn, und zu 
danken. Darum würde ich auf die Gasteincr Seite die Ueberschrift schreiben 
laßen: .Opfere Gott Dank und bezahle dem Höchsten deine Gelübde. Siehe 
zu, du bist gesund geworden; sündige hinfort nicht mehr, daß dir nicht etwas 
Ärgeres widerfahre. 
.Ich war einmal dabei, als zu gleicher Zeit zwei Personen an dem 
Kreuze knieten. Die eine auf dieser, und die andere auf jener Seite, beide in 
einer und eben derselben Angelegenheit, die eine um zu danken, und die andere 
um zu bitte,:. — Die Sache gieng aber so zu.' 
,Es können jetzt zwölf Jahre oder darüber sein, als ich von daheim 
nach Malnitz hinüber gieng, um Arbeit zu suchen, mit dem Glaser von Hof- 
gastein, zu dem man auch nicht geht, sondern wartet, bis er, seine Butte auf 
dem Rücken, kommt, an das Fenster klopft und fragt, ob alles noch ganz sei. 
So kam ich auch in ein Haus, wo man aber nicht des Schneiders, sondern 
des Arztes bedurfte. Denn die Hausfrau lag in großen Schmerzen auf ihren, 
Bette und von der Gicht an den Händen und Füßen gelähmt. Sic hatte schon 
viel erlitten von Aerzten, von studierten und unstudierten, und es half ihr nichts, 
sondern vielmehr ward es immer ärger mit ihr. Eßen und Trinken mußte 
man ihr reichen, wie einem Kinde, dcn, die Hände in das Wickelkissen gebun¬ 
den sind. Die Thränen, die sie vergoß, konnte sie nicht abwischen, so wenig 
als der Weinstock, wenn er beschnitten und angebunden ist. Die Fliegen mußte 
sie in ihrem Gesichte sitzen laßen, bis eine srenlde Hand oder die Nacht kamen 
und sie verscheuchten. Denn auch ihr Nacken war steif, wie ihre Glider.' 
,An einem solchen Schmerzenslager wird jedermann zum Doktor. Ich
	        
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