Full text: [Teil 1, [Schülerband]] (Teil 1, [Schülerband])

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sonst an einen schaurigen Ort, so antwortete er wohl: „Ach, Vater, es gruselt 
mir!“ denn er fürchtete sich. Oder wenn abends beim Feuer Geschichten erzählt 
wurden, wobei einem die Haut schaudert, so sprachen die Zuhörer manchmal: 
„Ach, es gruselt mir!“ Der jüngste saß in einer Ecke und hörte das mit an 
und konnte nicht begreifen, was es heißen sollte. „Immer sagen sie: es gruselt 
mir! es gruselt mir! Mir gruselt's nicht; das wird wohl eine Kunst sein, von 
der ich auch nichts verstehe.“ 
Nun zeschah es, daß der Vater einmal zu ihm sprach; „Hör, du in der 
Ecke dort, du wirst groß und stark und mußt auch etwas lernen, womit du dein 
Brot verdienst. Siehst du, wie sich dein Bruder Mühe giebt, aber an dir ist 
Hopfen und Malz verloren.“ „Ei, Vater,“ antwortete er, „ich will gern was 
lernen; ja wenn's anginge, so möcht ich lernen, daß mir's gruselte; davon verstehe 
ich noch gar nichts.“ Der älteste lachte, als er das hörte, und dachte bei sich: 
„Du lieber Gott, was ist mein Bruder ein Dummbart, aus dem wird sein Lebtag 
nichts; was ein Häkchen werden will, muß sich bei Zeiten krümmen.“ Der Vater 
seufzte und antworlete ihm: „Das Gruseln, das sollst du schon noch lernen, 
aber dein Brot wirst du damit nicht verdienen.“ 
Bald hernach kam der Küster zum Besuch ins Haus; da klagte ihm der 
Vater seine Not und erzählte, wie sein jüngster Sohn in allen Dingen schlecht 
beschlagen wäre, er wisse nichts und lerne nichts. „Denkt euch, als ich ihn 
gefragi, womit er sein Brot verdienen wolle, hat er gar verlangt, das Gruseln 
zu lernen!“ „Ei,“ antwortete der Küster, „das kann er bei mir lernen, thut ihn 
nur zu mir, ich will ihn schon abhobeln.“ Der Vater war es zufrieden, weil 
er dachte, der Junge wird doch ein wenig abgehobelt, und der Küster nahm ihn 
zu sich iis Haus, und er mußte ihm die Glocke läuten. Nach ein paar Tagen 
weckte er ihn um Mitternacht, hieß ihn aufstehen, in den Kirchturm steigen und 
läuten. „Da wirst du schon lernen, was Gruseln ist,“ dachte er; doch um ihm 
noch einen rechten Schrecken einzujagen, ging er heimlich voraus und stellte sich 
ins Schallloch, da sollte der Junge meinen, es wäre ein Gespenst. Der Junge 
stieg ruhig den Turm hinauf; als er oben hinkam, sah er eine Gestalt im Schall⸗ 
loch. „Wer steht dort?“ rief er, aber es regte und bewegte sich nicht. Da 
sprach er: „Was willst du hier in der Nacht? mach, daß du fort kommst, oder 
ich werf dich hinunter.“ Der Küster dachte, es wird so arg nicht gemeint sein, 
schwieg und blieb unbeweglich stehn; da rief ihn der Junge zum drittenmal an, 
und als er immer keine Antwort erhielt, nahm er einen Anlauf und stieß das 
Gespenst hinab, daß es Hals und Bein brach. Darauf läutete er die Glocke, 
und wie das geschehen war, stieg er wieder hinab, legte sich ohne ein Wort zu 
sprechen ins Bett und schlief fort. Die Küsterfrau wartete auf ihren Mann 
lange Zeit; aber der kam immer nicht wieder; da ward ihr endlich angst, daß 
sie den Jungen weckte und fragte: „Weißt du nicht, wo mein Mann geblieben 
ist? er ist mit auf den Turm gestiegen.“ „Nein,“ antwortete der Bub; „aber 
da hat einer im Schallloch gestanden, und weil er nicht weggehen und keine Ant⸗ 
wort geben wollte, so habe ich ihn hinunter geschmissen; geht einmal hin, so 
werdet ihr sehen, ob ers ist.“ Die Frau eilte voll Angst auf den Kirchhof und 
fand ihren Mann tot auf der Erde liegen.
	        
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