Full text: [Teil 1, [Schülerband]] (Teil 1, [Schülerband])

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Betrachtungen über ein Vvogelnest. 
Mach Sohann Peter Hebel.) 
Wenn der geneigte Leser ein Finkennest in die Hand nimmt und be— 
trachtet's, was denkt er dazu? Getraut er sich auch so eins zu stricken, und zwar 
mit dem Schnabel und mit den Füßen? Ich glaubs schwerlich. Ja, ich will 
zugeben, der Mensch vermag viel. Ein geschickter Künstler mit zwanzig feinen Instru⸗ 
menten kann nach viel mißlungenen Versuchen zuletzt etwas herausbringen, das 
einem Finkennest gleich sieht; und alle, die es sehen, können es von einem wirk⸗ 
lichen Neste, das der Vogel gebaut hat, nicht unterscheiden. Alsdann bildet sich 
der Künstler etwas ein und meint, er sei auch ein Fink. Guter Freund, dazu 
fehlt noch viel. Und wenn ein wahrer Fink, wie du jetzt auch einer zu sein 
glaubst. dazu käme und könnte dein Machwerk durchmustern, wie der Zunftherr 
ein Meisterstück, so würde er den Kopf ein wenig auf die linke Seite drücken 
und dich mit dem rechten Auge kurios ansehen; und so er menschlich mit dir 
reden könnte, würde er sagen: ‚„Lieber Mann, das ist kein Finkennest! Ich mags 
betrachten, wie ich will, so ists gar kein Vogelnest. So einfältig und ungeschickt 
baut kein Vogel. Was gilts, du Pfuscher hast's selber gemacht.“ Das würde zu 
dem Künstler sagen der Fink. 
Ebenso ist es mit einem verachteten Spinnengewebe. Der Mensch kann 
kein Spinnengewebe machen. Ebenso ist es mit dem Gespinst, in das sich ein 
Raupenwurm wie in sein Totenhemd einwebt, wenn seine Verwandlung anheben 
soll. Ein Mensch kann kein Raupengespinst machen. 
Ich will ein Wort mehr sagen. Alle Finkennester in der Welt sehen ein— 
ander gleich, vom ersten im Paradies bis zum letzlen in diesem Frühling. Kei— 
ner hats vom andern gelernt; jeder kanns selber. Die Finkenmutter legt ihre 
Kunst schon in das Ei. Ebenso alle Spinnengewebe, ein jedes nach seiner Art; 
ebenso jedes Totenhemd des Raupengeschlechts in seiner Art. Man weiß es 
wohl, aber man denkt nicht daran. 
Noch ein Wort mehr. Das erste Nest eines Finken ist eben so künstlich 
wie sein letztes. Er lernts nie besser. Ja, manches Tierlein braucht sein Ge— 
spinst nur einmal in seinem Leben und hat nicht viel Zeit dazu. Es wäre 
übel daran, wenn es zuerst eine ungeschickte Arbeit machen müßte und denken 
wollte: „Für dieses Jahr ists gut genug; übers Jahr mach ichs besser!“ 
Noch ein Wort mehr. Jedes Vogelnest ist ganz vollkommen und ohne 
Tadel, nicht zu groß und nicht zu klein, nicht zu wenig daran und nicht zu viel, 
dauerhaft für den Zweck, wozu es da ist. In der ganzen Natur ist kein Lehr⸗ 
lingswerk, lauter Meisterstücke. 
Aber der Mensch, was er zur Geschicklichkeit bringen soll, das muß er mit 
vieler Zeit und Mühe lernen, und bis ers kann, bekommt er manche Ohrfeige 
von dem Meister, der selber keiner ist. Denn kein menschliches Werk ist voll— 
kommen. Hat der geneigte Leser noch nie eine Uhr gekauft, und wenn er meinte, 
jetzt geht sie am besten, so blieb sie stehen? Oder ein paar Stiefel, einmal 
sind sie zu eng, ein andermal zu weit, oder in den ersten acht Tagen wird ein 
Absatz rebellisch und will desertieren.
	        
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