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vermeidend, geriet er in die Charybdis, einen Strudel, welcher die
Wogen abwechselnd einschlürfte und ausspie. Das Fahrzeug wurde hin—
untergerissen; an einem wilden Feigenbaum, der über dem Eingang in die
Tiefe hing, krallte sich der Held fest wie eine Fledermaus; als das Schiff⸗
lein wieder herauf kam, sprang er geschickt hinein und ruderte weiter.
Wind und Wellen verschlugen ihn auf die liebliche Insel der Nymphe
Kalypso, die ihn wie Kirke unsterblich machen und zu ihrem Gatten er—
heben wollte. Aber unwiderstehliches Heimweh füllte seine Seele. Tage—
lang saß er weinend am Strande, bis auf seinen Slügelschuhen hermes
kam mit dem Befehl des Zeus, Kalypso solle den Hhelden fortlassen. Da
zimmerte er sich ein Floß, und die Göttin leistete ihm handreichung.
4. Aber noch war Poseidons Kache nicht gesättigt. Ein wütender
Sturm zerriß das Fahrzeug. Nur der Schleier, den ihm die Meergöttin
Leukothea lieh, rettete ihn vom Untergang. Zwei Tage und zwei Nächte
lang schüttelte ihn das Meer umher, bis dem Todmüden die Landung
glückte. Er war auf der Insel der Phaiaken: hier hatte der Zorn des
Erderschütterers keine Macht mehr über ihn.
Nus tiefem Schlaf weckte ihn am folgenden Tag das lustige Treiben
der Mädchen, mit denen die holde Königstochter Nausikaa an der Düne
Wasche hielt. Beseelt von Athenens Geiste, gab sie ihm Kleider und wies
ihm den Weg zu ihres Vaters Schloß. Festlich empfingen und bewirteten
ihn die Phäaken; und als er seinen Namen nannte, rüsteten sie ein Schiff,
das ihn an Ithakas Gestade brachte. Er schlummerte, während sie ihn
ans Land trugen und die reichen Geschenke ihrer Fürsten in der Nymphen—
grotte bargen.
5. Athena geleitete ihn zu seinem wackeren hirten Eumaios und ver—
wandelte ihn in einen Bettler. Unerkannt betrat er seine Burg und war
selbst Zeuge, wie sich seine Gattin Penelopeia der Unterkönige erwehrte,
die sie aufdringlich umwarben und sein Gut verpraßten. Ihn selbst
höhnten und mißhandelten die Freier. Endlich erhob er sich in seiner
heldenstärke: mit seinem Bogen, den keiner von ihnen zu spannen ver—
mochte, schoß er die Frevler alle nieder ohne Erbarmen. Dann entsühnte
er sein haus und freute sich des Wiedersehens mit seinem trefflichen
Sohne Telemachos und seiner treuen Penelope. Sie hatte es verdient,
daß er sie zwei Göttinnen vorgezogen.
Ernst Keller.
15. Orestes.
1. Orest und Klytämnestra.
König Agamemnon von Mykenä, der die Griechen im Kriege gegen
Troja angeführt hatte, hatte einen Sohn, Orestes; der war noch sehr
jung, als sein Vater, da er von Troja zurückkam, von seiner verbreche—
rischen Frau Klytämnestra und von ägisthos erschlagen ward; ägisthos
Keller-Stehle, Deutsches Lesebuch IL. E 2
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