Full text: (Für das 2. und 3. Schuljahr) (Band 1, [Schülerband])

Fichtes Reden an die deutsche Nation. .9 
liche Freiheit des einzelnen auf mancherlei Weise beschränkt 
werden, und wenn man gar keine andere Rücksicht und Absicht 
mit ihnen hätte, denn diese, so würde man wohl tun, dieselbe 145 
so eng als immer möglich zu beschränken, alle ihre Regungen 
unter eine einförmige Regel zu bringen und sie unter immer— 
währender Aufsicht zu erhalten. Gesetzt, diese Strenge wäre 
nicht nötig, so könnte sie wenigstens für diesen alleinigen 
Zweck nicht schaden. Nur die höhere Ansicht des Menschen- 150 
geschlechts und der Völker erweitert diese beschränkte Berech— 
nung. Freiheit, auch in den Regungen des äußerlichen Lebens, 
ist der Boden, in welchem die höhere Bildung keimt; eine Ge 
setzgebung, welche diese letztere im Auge behält, wird der er— 
steren einen möglichst ausgebreiteten Kreis lassen, selber auf 155 
die Gefahr hin, daß ein geringerer Grad der einförmigen Ruhe 
und Stille erfolge, und daß das Regieren ein wenig schwerer 
und mühsamer werde. 
Um dies an einem Beispiele zu erläutern: man hat erlebt, 
daß Nationen ins Angesicht gesagt worden, sie bedürften nicht 160 
so vieler Freiheit als etwa manche andere Nation. Diefse 
Rede kann sogar eine Schonung und Milderung enthalten, 
indem man eigentlich sagen wollte, sie könnten so viele Freiheit 
gar nicht ertragen, und nur eine hohe Strenge könne verhin— 
dern, daß sie sich nicht untereinander selber aufrieben. Wenn 165 
aber die Worte also genommen werden, wie sie gesagt sind, 
so sind sie wahr unter der Voraussetzung, daß eine solche Nation 
des ursprünglichen Lebens und des Triebes nach solchem 
durchaus unfähig sei. Eine solche Nation, falls eine solche, 
in der auch nicht wenige Edlere eine Ausnahme von der all-170 
gemeinen Regel machten, möglich sein sollte, bedürfte in der 
Tat gar keiner Freiheit, denn diese ist nur für die höhern, 
über den Staat hinausliegenden Zwecke; sie bedarf bloß der 
Bezähmung und Abrichtung, damit die einzelnen friedlich 
nebeneinander bestehen, und damit das Ganze zu einem tüch-175 
ligen Mittel für unwillkürlich zu setzende, außer ihr liegende 
Zwecke zubereitet werde. Wir können unentschieden lassen, ob 
man von irgendeiner Nation dies mit Wahrheit sagen könne; 
so viel ist klar, daß ein ursprüngliches Volk der Freiheit bedarf, 
daß dieses das Unterpfand ist seines Beharrens als ursprüng- 180 
lich, und daß es in seiner Fortdauer einen immer höher stei— 
3.
	        
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