Anhang II.
481
I. Die epische Poesie.
Die epische Dichtung ist die poetische Darstellung vergangener Ereignisse und Thatsachen
(also Erzählungen), oder gegenwärtiger Zustände und Erscheinungen. (also poetische Beschreibung).
Die Gebiete, aus denen die epische Dichtung ihre Stoffe entlehnt, sind also einerseits Sage und
Geschichte, andererseits das Leben der Gegenwart.
A. Rein epische Dichtungen.
1. Das eigentliche Epos.
a. Das Volksepos.
(Vgl. I. Nr. 1 und 2, S. 3—36.)
Die Sage berichtet von Thaten und Erlebnissen eines Volkes oder eines Volksstammes;
die Ereignisse, auf einem bestimmten Schauplatz sich vollziehend, haben einen gewissen geschicht¬
lichen Hintergrund, nur sind sie mit erdichteten Zügen vermischt, poetisch ausgeschmückt, die Per¬
sonen sind mit Eigenschaften und Kräften ausgestattet, welche über das Maß der Menschlichkeit
hinausgehen. So sind diese Sagen mündlich fortgepstanzt von Geschlecht zu Geschlecht; und zwar
in einer dem erhabenen Gegenstand würdigen Form, in Liedern. (Ein solches Lied ist das Hilde¬
brandslied S. 21). Mehrere solche Sagen schmolzen zusammen zu Sagenkreisen, und so wurden
auch die einzelnen Heldenlieder verbunden zu größeren Dichtungen, zu Epen. Epen solcher
Art nennen wir Volksepen. In ihnen spiegelt sich das Leben eines ganzen Volkes in den ver¬
schiedensten Beziehungen ab; die beiden großen deutschen Volksepeu sind: Das Nibelungenlied
und das Gudrunlied.
Der Heldensage verwandt ist die Tiersage, aus ihr ist das Tierepo s hervorgegangen.
Im Reineke Fuchs tritt allerdings das Lehrhafte stark hervor, so daß es mehr der didaktischen
Epik angehört. (Vgl. V. Nr. 7. S. 68 pp.)
I). Das Kunstepos.
(Vgl. die Einleitung zu I. Nr. 3, S.^37 pp.)
Im Kunstepos werden überwiegend fremde Sagenstoffe behandelt; der Dichter gestaltet
diese Stoffe nach seiner Auffassung. Den Mittelpunkt der Dichtung bildet ein Haupthcld, der uns
in seinem Streben und Ringen, in seinem Kämpfen und Siegen dargestellt wird, dabei thun wir
einen Blick in sein Gemütsleben, wie er groß und stark in Liebe und Treue, aber auch im
Hassen ist.
Im Mittelalter schöpften die Dichter meist aus romanischen, besonders französischen
Quellen, daher man ihre Epen romantische (eigentlich romanische) nennt, so der Parzival von
Wolfram von Escheubach.
Zu den Kunstepen gehört auch das rcligöse Epos, welches seinen Stoff aus der bib¬
lischen oder Kirchengeschichte nimmt; solcher Dichtungen giebt es nur wenig: Der Heliand, Der
Christ, Der Messias von Klopstock.
Endlich ist noch zu nennen das bürgerliche und idyllische Epos.
Es bewegt sich auf dem Boden des beschränkten bürgerlichen und ländlichen Lebens, jedoch
müssen die Ereignisse vom Dichter in Beziehung zu wichtigeren Weltereigniffeu gesetzt werden;
so finden wir es in Goethc's Hermann und Dorothea. Fehlen diese Beziehungen, so entsteht
überhaupt kein Epos, sondern ein Idyll (Voß, Luise).
2. Das Märchen.
Das Wort Märe, von welchem Märchen die Verkleinerungsform ist, bedeutet das Berühmte,
das, was in jedermanns Munde ist, also ist die Heldensage auch eine Märe. Das Märchen
läßt im Gegensatz zur Sage Namen, Ort und Zeit unbestimmt, es erzählt nur: „Es war einmal."
Es knüpft an die Göttersage, den Mythus, an. Der Mythus verherrlicht die in der Natur sich
offenbarenden Götter, die dem menschlichen Geiste Ehrfurcht einflößen. Im Märchen sind an Stelle
der Götter dämonenhafte, mächtige Wesen getreten, welche hinter den Naturkräften und Natur¬
erscheinungen sich verbergen und zu dem Menschen in freundlicher oder feindlicher Absicht in Be¬
ziehung treten. Der Mensch aber ist sich ihres Einflusses bewußt und steht ihnen voll Scheu
gegenüber. Dieser geheimnisvolle Zusammenhang des Menschen mit derlNatur ist der Inhalt
des^Märchens.
Dem deutschen Volke ist der köstliche Schatz seiner Märchen, der lange Zeit nur von den
Niedrigen gekannt und gepflegt war, wiedergewonnen durch die Sammlung' der Brüder Grimm
(„Haus- und Kindermärchen").
Diesem Volksmärchen gegenüber hat sich auch das Kunstmärchen entwickelt, in
welchem die Darstellung, oft auch der Stoff, freie Erfindung des Dichters ist. (Chamisso, Peter
Schlehmil. Fouque, Undine. Der Deutsch-Däne Chr. Andersen).
3. Die Legende.
Das Wort bedeutet in der alten katholischen Kirche „Was gelesen werden muß", d. h. was
im Gottesdienste vorgelesen wurde, oder dem Laien zu Hause zu lesen erlaubt war, also nicht
Sieger, Lebensbilder f. d. deutschen Litteraturunterrichi. 31