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Goethe.
veraltetes Kostüm. Höchst ungeschickt wär es gewesen, an diesem Orte die
heilige Gesellschaft auf Polster auszustrecken. Nein, sie sollte der Gegenwart
angenähert werden, Christus sollte sein Abendmahl bei den Dominikanern zu
Mailand einnehmeu.
Anch in manchem andern Betracht mußte das Bild große Wirkung thun.
Ungefähr zehn Fuß über der Erde nehmen die dreizehn Figuren, sämtlich
etwa anderthalbmal die Lebensgröße gebildet, den Raum von achtundzwanzig
Pariser Fuß der Länge nach ein. Nur zwei derselben sieht man ganz an den
entgegengesetzten Enden der Tafel, die übrigen sind Halbfiguren, und auch
hier fand der Künstler in der Notwendigkeit seinen Vorteil. Jeder sittliche
Ausdruck gehört nur dem obern Teil des Körpers an, und die Füße sind
in solchen Fällen überall im Wege; der Künstler schuf sich hier elf Halbfi—
guren, deren Schoß und Knie von Tisch und Tischtuch bedeckt wird, unten
aber die Füße im bescheidenen Dämmerlicht kaum bemerklich sein sollten.
Nun versetze man sich an Ort und Stelle, denke sich die sittliche äußere
Ruhe, die in einem solchen mönchischen Speisesaale obwaltet, und bewundere
den Künstler, der seinem Bilde kräftige Erschütterung, leidenschaftliche Bewe—
gung einhaucht und, indem er sein Kunstwerk möglichst an die Natur heran—
gebracht hat, es alsobald mit der nächsten Wirklichkeit in Kontrast setzt.
Das Aufregungsmittel, wodurch der Künstler die ruhig heilige Abend⸗
tafel erschüttert, sind die Worte des Meisters: Einer ist unter euch, der
mich verrät! Ausgesprochen sind sie, die ganze Gesellschaft kommt darüber
in Unruhe; er aber neigt sein Haupt, gesenkten Blickes; die ganze Stellung,
die Bewegung der Arme, der Hände, alles wiederholt mit himmlischer Erge⸗
benheit die unglücklichen Worte, das Schweigen selbst bekräftigt: Ja, es ist
nicht anders! Einer ist unter euch, der mich verrät!
The wir aber weiter gehen, müssen wir ein großes Mittel entwickeln,
wodurch Leonardo dieses Bild hauptsächlich belebte: es ist die Bewegung der
Hände; dies konnte aber auch nur ein Italiener finden. Bei seiner Nation
ist der ganze Körper geistreich, alle Glieder nehmen teil an jedem Ausdruck
des Gefühls, der Leidenschaft, ja des Gedankens. Durch verschiedene Gestal⸗
tung und Bewegung der Hände drückt er aus: „Was kümmerts michl! —
Komm her! — Dies ist ein Schelm! ninem dich in acht vor ihm! — Er
soll nicht lange leben! — Dies ist ein Hauptpunkt. — Dies merkt besonders
wohl, meine Zuhörer!“ Einer solchen Nationaleigenschaft mußte der alles
Charakteristische höchst aufmerksam betrachtende Leonardo sein forschendes Auge
besonders zuwenden; hieran ist das gegenwärtige Bild einzig, und man kann
ihm nicht genug Betrachtung widmen. Vollkommen übereinstimmend ist die
Gesichtsbildung und jede Bewegung, auch dabei eine dem Auge gleich faßliche
Zusammen⸗ und Gegeneinanderstellung aller Glieder auf das lobenswürdigste
geleistet.