Full text: Deutsches Lesebuch für die Oberklassen höherer Mädchenschulen

Üüber das Wesen der Märchen. 
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dann endlos aufthut. Das Böse ist nicht ein Kleines, Nahstehendes und 
das Schlechteste, weil man sich daran gewöhnen könnte, sondern etwas 
Pntsetzliches, streng Geschiedenes, dem man sich nähern darf. Pben so 
furchtbar aueh die Strafe: Sehlangen und giftige Würmer verzehren ihre 
Opfer, oder in glühenden Eisenschuhen muss es sieh zu tot tanzen. Das 
alles redet unmittelbar zum Herzen und bedarf keiner Erklürung, aber bald 
ergibt sieh noch eine tiefero Bedeutung: die Mutter wird in dem Augen- 
bllek ihr rechtes Kind wieder im Arme haben, wo sie den Wecbhselbalg, 
den ihr die Hausgeister dafür gegeben, zum Lachen bringen kann, denn 
in dem Lächeln füngt das Leben des Kindes an und währt in der Preude 
fort, und darum reden beim Lücheln im Sehlaf die Engel mit ihm. Eine 
Viertelstunde tüglich ist über der Macht des Zaubers, wo die mensehliche 
Gestalt frei hervortritt, weil keine Gewalt uns ganz einhüllen kann und 
jeder Pag Augenblicke gewührt, wo der Mensch alles Falsche abschuttelt 
und frei und ungebunden aus sieh selbst herausblicken Kann. Dagegen 
wird der Zauber aueh nieht ganz gelöset, ein Pehler wird begangen und 
ein Sehwanenflügel bleibt statt des Arms, oder weil eine Thrune gefallen, 
ist ein Auge mit ihr verloren. Durch den Dummling wird die weltliche 
Klugheit gedemutigt, denn er, weil er reines Herzens ist, gewinnt allein 
das Glücke Jede wahre Poesie ist der mannigfaltigsten Auslegung fahig, 
denn da sie aus dem Leben aufgestiegen ist, kehrt sie auch immer wieder 
u ihm zurück; sie trifft uns wie das Sonnenlicht, wo wir auch stehen; 
darin ist es gegründet, wenn sich so leicht aus diesen Mürchen eine gute 
Lehre, eine Anwendung für die Gegenwart ergiebt; es war weder ihr 
Zweck, noch sind sie, wenige ausgenommen, deshalb entstanden, aber es 
erwuchst daraus, wie eine gute Frucht aus einer gesunden Bluüte, ohne Zu- 
thun der Menschen“). 
Nicht zu verkennen ist ein gewisser Humor, der durch viele hingeht, 
wenn er sich manchmal aueh nur leise üussert, und den man mit der ein- 
gelegten Ironie moderner Erzubler nieht verwechseln muss. In einigen 
Vird er besonders und anmutig ausgebildet, wie in der klugen Else, dem 
Schneider im Himmel und dem Jungen, der auszog, das Fürchten zu ler- 
nen, und der durch nichts Schreckhaftes, zuletzt aber dureh ein natür- 
liches Mittel zur Erkenntnis gelangt. Das ungeschlachte Wesen des jungen 
Riesen erhilt ebenso dureh seinen Humor ein Gleichgewieht, als diegfried 
in den Nibelungen dureh seine Scherze das strenge Heldenwesen mildoert. 
Der phantastische Igel-Hans erhebt sieh dagegen durch den Humor aus 
) „Die wahre Darstellung hat Keinen didaktischen Zweck. Sie billigt nieht, 
gĩe tadelt nioht, sondern sis entwiekelt die Gesinnungen und Handlungen in 
ihrer Polge, und dadureh erleuchtet und belehrt sie.“ Goethes Leben III, 350.
	        
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