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88 IV. Sagen.
in diesem Heldengemälde ist, so daß es von der Heldin Gudrnn bereits
in alter Zeit den Namen erhalten hat. Insofern bildet das Lied von
Gudrnn den versöhnenden Gegensatz zu dem Nibelungenliede, als dort
das weibliche Gemüt zwar in bem vollsten Zauber, aber auch in dem
vollsten Schrecken seiner Tiefe, — hier die strenge Treue, das demütige
Dulden und der niemals entwürdigte Adel einer deutschen Frauenseele
zur Erscheinung kommt. Nimmt man hinzu, daß alle übrigen Charaktere
der Dichtung ohne Ausnahme das festeste, sicherste Gepräge, eine be¬
wundernswürdig scharf durchgeführte, auch nicht durch den leisesten Mi߬
griff verschobene Haltung bewahren, so kann man nicht anders, als diesen!
Gedichte nächst den Nibelungen die erste Stelle in der Reihe unserer
epischen Dichtungen, in der deutschen Dichtung überhaupt anzuweisen.
In diesem Gedichte ist die Sage von drei aufeinanderfolgenden Ge¬
schlechtern enthalten: von Hagen, dem König von Irland und feiner Jugend,
von der Werbung des Friesenkönigs Hettel um dessen Tochter Hilde und
endlich von Gudrnn, Hettels und Hildes Tochter. In der Erzählung von
Hettels Werbung um Hilde — denn Hagels Geschichte dürfen mir hier über¬
gehen — tritt uns vor allem in der Schilderung der Wunderwirkung des Ge¬
sanges des Stormarnkönigs Horant eine altberühmte, bei unsern nordischen
Stammesverwandten wie bei uns vielfach erwähnte und dargestellte Sage
entgegen. Die Abgesandten des Königs Hettel, Horant und seine Mannen,
Frute und Wate, haben bei dem Jrlandskönig Hagen Zutritt erlangt,
um seine ängstlich von ihm gehütete Tochter Hilde für ihren Verwandten
Hettel zu gewinnen, und schon haben die beiden gewaltigen Kriegshelden
Frute und Wate sich das Vertrauen des Königs, sowie Wate wenigstens
das scherzende Wohlwollen der königlichen Frauen erworben. — Wate,
der breitbärtige, riesige Held, bequemt sich, bei den Frauen sich nieder¬
zulassen, und diese fragen ihn scherzend, wie er ernst dasitzt, bunte Borten
um das dichtbehaarte Haupt gewunden, was ihm wohl lieber sei, bei
schönen Frauen zu sitzen oder in hartem Streit zu fechten. Und der
mächtige Kämpe, der in der Schlacht wie ein wilder Eber limmete (brauste),
antwortete ohne Besinnen, wohl dünke es ihm gut, bei schönen Frauen
-zu weilen, aber doch noch viel sanfter, 'in harten Stürmen mit dem
Heergefolg zu fechten. Da lachen laut die Königinnen und fragen, ob
dieser Mann denn auch wohl Weib und Kinder daheim habe. Schon
ist auf diesem Wege einiges Wohlwollen für die Werbung gewonnen, da
erhebt Horant seinen wunderbar süßen Gesmlg an einem stillen Abende
in der Burg des Königs am Seeufer, und die Vöglein lassen den Schall
ihres Abendliedes schweigen vor dem lieblichen Ton des königlichen Sängers;
und wieder am frühen Morgen bei Sonnenaufgang klingen die wunder¬
vollen Gesangestöne durch die Burg, daß die Vöglein auch ihr Morgen¬
lied vergessen, daß alle Schläfer im Königshause erwachen und der König
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