35. Gotthold Ephraim Lessing.
453
Mir sind hier die Versuchungen noch im Sinn, und daß der Mensch
so leicht verführt werden und von der ebenen Bahn abkommen kann.
Zugleich denk ich aber auch an alle Mühe des Lebens, an Schwindsucht
und Alter ..Hnd an das tausendfältige Elend und Herzeleid, das in der
Welt ist und die armen Menschen martert und quält und ist niemand,
der helfen kann. Und Du wirst finden, Andres, wenn die Thränen nicht
vorher gekommen sind, hier kommen sie gewiß, und man kann sich so
herzlich heraussehnen und in sich so betrübt und niedergeschlagen werden,
als ob gar keine Hilfe wäre. Dann muß man sich aber wieder Mut
machen, die Hand auf den Mund legen und wie im Triumph fort—
fahren: Denn dein ist das Reich und die Kraft und
die Macht und die Herrlichkeit in Ewigkeit. Amen.
35. Lessing.
Gotthold Ephraim Lessing, der Sohn eines Pfarrers, wurde am
22. Januar 1729 in Kamenz geboren.) Im Jahre 1746 bezog er die
Universität Leipzig, um nach dem Wunsche seiner Eltern Theologie zu
studieren. Aber hiermit stimmte seine Neigung nicht überein, und seine
Studien nahmen bald eine andere Richtung. Zunächst wandte er sich der
Medizin zu, dann der Philologie und Altertumskunde und der Dichtkunst.
Vor allem aber zog ihn das Theater an, und die Vorstellungen, welche
die damals in Leipzig weilende Schauspielergesellschaft der Frau Karoline
Neuber gab, begeisterten ihn selbst zu dramatischen Versuchen. Unter dem
unmittelbaren Einflusse des Theaters und einiger Freunde (Mylius und
Weiße) wurde aus dem bisher zurückgezogen lebenden, schüchternen Jüngling
ein geselliger junger Mann, der auch durch gymnastische Übungen seinem
Körper eine größere Gewandtheit zu geben suchte. Die Sorge der Eltern
um des Sohnes sittliche und religiöse Haltung rief diesen zeitweise in die
Heimat zurück, doch ließen sie ihn beruhigt wieder ziehen, nachdem sie sich
überzeugt hatten, daß sein Charakter rein geblieben war und daß er auch in
den Wissenschaften tüchtige Fortschritte gemacht hatte. Von 1748 - 1760
hielt sich der junge Lessing abwechselnd in Berlin, Wittenberg und Leipzig
auf. Zuerst folgte er seinem Freunde Mylius nach Berlin, um durch
litterarische Arbeiten seinen Unterhalt zu erwerben; dann verlebte er längere
Zeit in Witlenberg, wo er 1751 seine Studien zunächst mit der Erlangung
der Magisterwürde abschloß. Nach Berlin zuruͤckgekehrt, trat er mit dem
Philosophen Mendelssohn und dem Buchhändler Nikolai in Verbindung
und entfaltete eine umfangreiche schriftstellerische Thätigkeit. In dieser Zeit
entstand sein erstes größeres Drama, das Trauerspiel ,Miß Sara Sampson“.
Im Frühjahr 1756 begleitete er einen jungen, wohlhabenden Leipziger
auf einer weit geplanten Reise, die aber mit dem Einfall König Friedrichs II.
in Sachsen schon in Amsterdam unterbrochen wurde. Lessing kehrte nach
Leipzig zurück und genoß hier den Umgang des edlen Majors Ewald v. Kleist,
der als Chef des Verpflegungswesens der preußischen Armee in Leipzig
stand. Mit Kleists Abgange zum Kriegsschauplatze wandte sich auch Lessing
) Aus Lessings Jugend (S. 35).