Schwab: Prometheus.
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fesselten einen Adler, der als täglicher Gast an seiner Leber zehren durfte, die
sich, abgeweidet, immer wieder erneuerte. Diese Qual sollte nicht eher auf¬
hören, bis ein Ersatzmann erscheinen würde, der durch freiwillige Uebernahme
oes Todes gewissermaßen sein Stellvertreter zu werden sich erböte.
Jener Zeitpunkt erschien früher, als der Verurtheilte nach Jupiters Spruch
erwarten durfte. Als er dreißig Jahre an dem Felsen gehangen, kam Herkules
des Weges, auf der Fahrt nach den Hesperiden und ihren Aepfeln begriffen.
Wie er den Götterenkel am Kaukasus hangen sah und sich seines guten Rathes
zu erfreuen hoffte, erbarmte ihn sein Geschick; denn er sah zu, wie der Adler,
auf den Knieen des Prometheus sitzend, an der Leber des Unglückseligen fraß.
Da legte er Keule und Löwenhaut hinter sich, spannte den Bogen, entsandte
den Pfeil und schoß den grausamen Vogel von der Leber des Gequälten hinweg.
Hierauf löste er seine Fesseln und führte den Befreiten mit sich davon. Damit
* aber Jupiters Bedingung erfüllt würde, stellte er ihm als Ersatzmann den Cen¬
tauren Chiron, der erbötig war, an jenes Statt zu sterben; denn vorher war
er unsterblich. Auf daß jedoch Jupiters Urtheil, der den Prometheus auf weit
längere Zeit an den Felsen gesprochen hatte, auch so nicht unvollzogen bliebe, so
mußte Prometheus fortwährend einen eisernen Ring tragen, an welchem sich ein
Steinchen von jenem Kaukasusselsen befand. So konnte sich Jupiter rühmen,
daß sein Feind noch immer an den Kaukasus angeschmiedet lebe.
II. Geschichtliche Darstellungen.
1. Schilderungen geschichtlicher Begebenheiten und Verhältnisse.
235. Die Athenische Erziehung nach den Gesetzen Solons.
Von Wolfgang Maximilian Duncker. Die Geschichte der Griechen. Berlin, 1857.
Die Erziehung der jungen Athener faßte Solon mit besonderer Sorgfalt
ins Auge. Man war in Attika davon durchdrungen, daß die Erziehung davon
ausgehen müsse, der Jugend Ehrfurcht und Scheu vor den Göttern einzuprä¬
gen, daß sie eine religiöse Grundlage haben müsse. Die sittliche Kraft der
Mäßigung, der Selbstbeherrschung, der Hingebung für das Gemeinwesen konnte
nur geweckt und genährt werden durch die Vergegenwärtigung der sittlichen
Mächte des Himmels. Solche Vergegenwärtigung des Wesens und Waltens
der Götter besaßen die Griechen nun in ihrer Poesie. An dieser mußte man
demnach die Jugend emporbilden. Die religiöse Poesie der Griechen bestand in
Hymnen und Chorälen, welche, zum liturgischen Gebrauche bestimmt, ohne die
Musik, von welcher sie getragen wurden, den wesentlichsten Theil ihrer Wirkung
embüßen mußten. Wenn man die Jugend diese Hymnen und Chorlieder lehrte,
wußte man sie zugleich den Gesang derselben, die musikalische Begleitung lehren.
Die Griechen schrieben zudem der Musik einen großen Einfluß auf die Seele der
Menschen zu. So verband sich bei ihnen der Unterricht in der Religion zugleich
unt dem in der Poesie und in der Musik. Sie faßten alle diese Zweige des
Unterrichts unter den Namen der musischen Kunst, der Musik, zusammen. In
den Büchern über die Gesetze wird ausgeführt, daß der natürliche Trieb der
äugend zu lärmen und zu springen durch Musik, Tanz und Gymnastik geregelt
werden müsse, daß es die Aufgabe der Musik und der Chorlieder sei, den jungen
und zarten Seelen der Kinder edle und schöne Grundsätze einzusingen. Indem
aber die religiös-sittliche Erziehung der Griechen an den Meisterwerken ihrer