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A. Erzählende Prosa. ITT. Erzählungen.
Einsicht gelangt, daß auf diese Weise bei dem besten Willen wenig Gutes ge¬
schafft, vielmehr in den meisten Fällen die Trägheit genährt und der Weg zur
Besserung versperrt würde; da habe er den Entschluß gefaßt, seine Habe, statt
sie unnützer Weise in einzelnen Handlungen der Wohlthätigkeit zu vergeuden, zu
einem allgemein nützlichen Zweck zu verwenden. Was die Stadt am meisten
bedürfe, wisse Jedermann; auch daß es an Mitteln fehle, dem Bedürfnisse ab¬
zuhelfen, und man sich also wohl noch ein Jahrhundert lang ohne Frucht und
Nutzen beklagen würde, wenn man nicht durch einen herzhaften Entschluß zu
Hülfe komme. Dieser Gedanke habe ihn lange verfolgt; er habe alle Schwie¬
rigkeiten der Ausführung erwogen; aber da er sich gesagt, daß auch die schwer¬
sten Dinge durch Beharrlichkeit möglich würden, habe er nicht eher Ruhe ge¬
habt, bis er den Entschluß bei sich festgesetzt habe, sich selbst Alles zu versagen,
um diese gute Stadt und ihre Bewohner, denen er so vieles Gute verdanke,
einer der größten Wohlthaten theilhaft zu machen. Es sei ihm nicht unbekannt
geblieben, wie nachtheilig man über seine veränderte Lebensart geurtheilt habe;
die üble Meinung, die man von ihm gehegt, habe ihn auch bisweilen gekränkt
und er sei einige Mal im Begriff gewesen seinen Vorsatz aufzugeben; aber Gott
habe ihm auf sein eifriges Gebet Beharrlichkeit verliehen und so sei es ihm
denn mit Gottes Hülfe gelungen, ein Kapital zusammenzubringen, das zur Er¬
bauung einer Wasserleitung größtentheils hinreichen dürste. Zu diesem Zwecke
vermache er es der Stadt und er glaube nicht dadurch gegen Jemand zu fehlen,
da ihm bekannt sei, daß seine Verwandten sein Vermögen nicht bedürften.
Uebrigens verzeihe er von ganzem Herzen allen denen, die Uebles von ihm ge¬
dacht und geurtheilt hätten, da sie ja nach dem Scheine nicht anders Hütten
denken und urtheilen können
Eine tiefe Stille hatte während des Lesens in dem Saale geherrscht, kein
Athemzug war gehört worden; als aber die Schlußworte gelesen waren, hielt
Niemand mehr seinen Beifall zurück. Ein lauter Jubel ertönte von allen Lippen,
und selbst die getäuschten Verwandten wurden von dem allgemeinen Taumel er¬
griffen und stimmten laut in die Bewunderung des Mannes ein, der, dem Dank
und der Achtung entsagend, sich selbst zur Armut verdammt hatte, um der Wohl¬
thäter seiner Stadt auf ewige Zeilen zu werden. „Ja, meine Herren," so schloß
der Geistliche seine Erzählung, „dies ist christlicher Heldenmüth! Der Muth,
der in dem Augenblicke der Gefahr, wo Leben gegen Leben steht, dem Tode ins
Angesicht blickt, bedeutet wenig gegen den, der ein so langwieriges Opfer der
Neigungen fordert und ein jahrelanges Verkennen und Verleumden erträgt."
Die ganze Gesellschaft stimmte ein; ich, dem die Geschichte noch neu war,
am theilnehmendsten. Einige Offiziere versuchten, den Muth des Kriegers in
Schutz zu nehmen; aber sie drangen nicht durch. Das Andenken des standhaf¬
ten Canonicus behielt den Sieg.
265. Das Bettelweib von Locarno.
Von Heinrich v. Kleist. Gesammelte Schriften. Berlin, 1836.
Am Fuße der Alpen bei Locarno im obern Italien befand sich ein altes,
einem Marchese gehöriges Schloß, das man jetzt, wenn man vom St. Gotthard
kommt, in Schutt und Trümmern liegen sieht; ein Schloß mit hohen und weit¬
läufigen Zinlniern, in deren einem einst auf Stroh, das man ihr unterschüttete,
eine alte kranke Frau, die sich bettelnd vor der Thür eingesuuden hatte, von der
Hausfrau aus Mitleid gebettet worden war. Der Marchese, der bei der Rück¬
kehr von der Jagd zufällig in das Zimmer trat, wo er seine Büchsen abzusetzen