Full text: Für Tertia (Abtheilung 1, [Schülerband])

I. G. Jacob:: An seine Schwestern. 
383 
den Gesang mit einer Pfeife und einem Trompetchen begleiten, —ein meister¬ 
hafter Kupferstich nach Jordaens mit der Holländischen Ueberschnft: 800 
drucke songen, soo pepen de jongen. 
Meine Frau hat kein eigenes Zimmer, sondern führt ein Nomadenleben, 
wandert mit ihrer Arbeit umher und weiß, daß sie überall willkommen ist. 
Da sie den Homer gelesen hat, so macht sie es zuweilen wie Andromache, Pene¬ 
lope und andere Griechische Königinnen, denen es nicht unter ihrer Würde schien, 
mit ihren Mägden in ebendemselben Gemache sich zu beschäftigen, zumal das der 
unsrigen die lustige Aussicht auf den mit Reben bepflanzten Schloßberg und aus 
andere mit Wäldern bedeckte Berge-gewährt. 
Diese reizende Aussicht hat zum Theil auch das gegen Morgen gelegene 
Wohn- und Schlafzimmer meines Sohnes, welches uns des Mittags zum 
Speisezimmer dient. Hier ist beständiger Gesang, denn sieben Vögel, fast alle 
verschiedener Art, lassen sich's in ihren Kästchen wohl sein; und wenn sie, wie 
es geschieht, bei dem Mittagessen ein Tutti anstimmen, so ist es, als speisten 
wir im Walde. Als ich meinem lieben Einzigen sein Zimmer überließ, ver¬ 
gönnte ich ihm es nach Gefallen einzurichten und auszuzieren, und das hat er 
zu meiner gänzlichen Befriedigung gethan. Ich kann es wie eine Hauskapelle 
betrachten, in welcher mich statt der Hausgötter die Bildnisse berühmter Männer 
aus verschiedenen Zeitaltern und viele meiner verstorbenen und noch lebenden 
Freunde umringen. Jeder der letzteren macht ein besonderes Kapitel in meiner 
Lebensgeschichte aus, und in meinen Feierstunden wird bald dieses, bald jenes 
Kapitel durchgegangen. Unter den Ersteren zeichnen sich die Bildniffe der drei 
größten Maler 'der'neueren Zeit aus: des die Farben der Natur so lebendig 
und warm auffassenden Man, des Correggio mit dem seinen, zarten Sinne 
für holde Jungfräulichkeit, Kinderunschuld und Anmuth und Raphaels, der 
alle, die vor ihm und nach ihm gewesen sind, übertrifft. Dieses Bild ist em 
farbiger Kupferstich nach einem Portrait, das Raphael selbst mit fünfzehn Jahren, 
also m dem Alter meines Sohnes, gemalt hat. Er sitzt da in einer ruhigen 
Stellung, den Kopf mit dem reinen', unbefangenen Auge still nachdenkend auf 
die rechte Hand gestützt, und sein forschender Blick dringt in die geheimsten 
Winkel der menschlichen Seele. Nach der Wahrheit wird er gestalten, was er 
auf Erden der Darstellung würdig erachtet, dann sich aufschwingen, das Ueber- 
menschliche suchen und aus Thabor seinen Christus verklären. In dem Augen¬ 
blicke seines Lebens, in welchem das Bild ihn zeigt, scheint er gerade zu ahnen, 
was groß und erhaben in der Kunst ist, aber noch nicht seine eigene künftige 
Große, noch nicht, daß Künstler, Kenner und Laien, daß die Edelsten und 
Weisesten der Nachwelt sich vor seine Werke hinstellen werden in stummer An¬ 
betung und daß jedes Bild von seiner Hand den Ort heiligen wird, der es auf¬ 
bewahrt. 
Oft nach der Mittagsmahlzcit, wenn mein Sohn seine Mutter auf einem 
Spaziergänge begleitet, überlasse ich mich in diesem einsamen Zimmer ganz 
Liebe m ihm nnr» s« vn^a ihm 
st^ve zu ihm. Wie mir Alles dch was ihm zugehört, so ftverth ist — 
LJ* , ' m chm die Morgensonne vergoldet, wo seine Vögel ihn wach 
i gen, leine Arbeiten, die er mit so gewissenhaftem Fleiße anfertigt, seine Zeich- 
fcfip$en ~-ü ^ bs, Alles! Aber der Gedanke, daß ich vielleicht bald von ihm 
öen Mühseligkeiten und Gefahren des Lebens, vor denen die treueste 
?es7ai. allein nicht schützen kann, dahingeben muß, dieser Gedanke — doch 
3 1 v iS Menschen — sollten sie nicht dem, der meinen letzten Segen em- 
pffng, die Liebe seines Vaters vergelten?
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.