Full text: [Teil 6 = Obertertia - Untersekunda, [Schülerband]] (Teil 6 = Obertertia - Untersekunda, [Schülerband])

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I. Erzählungen, Beschreibungen u. s. w. 
finster hin auf den einstigen Schauplatz seiner Größe und alleinigen 
Herrschaft. Anstatt seiner breitete sich dort ein bunter Teppich ver¬ 
schiedenfarbiger Felder und saftig grüner Wiesen aus, an dem Bache 
entlang zog sich die Dorfstraße, und an dieser lagen saubere Häuser, mit 
hübschem Schmtzwerk verziert, unlgeben von Gärten, in denen Basilikum, 
Raute, Lavendel, Salbei und andere Würzpflanzen dufteten, in denen 
Mohn und Lilien, brennende Liebe und Gelbveigelein blühten und 
strotzende Küchengewächse sich üppig ausbreiteten. Hinter den Häusern 
aber, im Grasgarten, schimmerten im Frühling silbern und rosig die Obst¬ 
bäume und standen im Herbste gebeugt von goldenen und blauen Früchten. 
Am höchsten Punkte des Dorfes streckte nun aus dem Schatten uralter 
Eichen eine Kirche ihr spitzes Türmlein hervor, und an den stillen Sommer¬ 
abenden hörte man statt des rauhen Gebrülles der wilden Tiere ein 
friedliches Läuten, das Dengeln von Sensen und das fröhliche Geschrei 
spielender Kinder. 
Nur der Bach blieb bei diesem Wechsel der Dinge immer derselbe 
und rauschte durch Dorf und Wiesen mit demselben Geplätscher dahin 
wie einst durch den unberührten Urwald; er sah die endlose Kette 
menschlichen Daseins an sich vorübergleiten und dahinfließen wie seine 
eigenen Wellen, die ewig neu und ewig dieselben waren. Er sah die 
Kinder an seinen Ufern spielen, wie sie Kanäle und Mühlen bauten und 
Krebse und Forellen griffen. Er sah sie heranwachsen und pärchenweise 
im Mondschein an seinen Ufern wandeln. Er sah gebräunte Männer 
auf die Arbeit ziehen, indes sich die Frauen in Haus unb Garten fleißig 
regten. Er sah an seinem Rande gebrechliche Greise sitzen, die in der 
Sonne träumten, und zu deren Füßen neue Kinder die alten Spiele übten; 
und so flössen die Wellen und die Jahre unablässig dahin. Dieses fried¬ 
liche Leben ward nur unterbrochen durch solche Ereignisse, für deren 
Fernbleiben allsonntäglich auf der Kanzel gebetet wird, und denen das 
Menschengeschlecht doch nie und nimmer entrinnen kann. Es kamen 
Kriegskünste, in denen sich die kristallklaren Wellen des Baches mit Blut 
färbten, es kam eine Feuersbrunst und verzehrte die Häuser des halben 
Dorfes; eine Pestilenz, ausgebrütet in den Sümpfen der Länder gegen 
Sonnenaufgang, wanderte herbei, leerte die Häuser und füllte den Kirch¬ 
hof, Mißwachs und sein scheußliches Kind Hungersnot zehrten an den 
Leibern der Dorfbewohner; doch alles überwand die unverwüstliche Kraft 
des Lebens, und so blüht und gedeiht der freundliche Ort Waltersrode 
bis auf den heutigen Tag. 
Und wie sieht es denn jetzt dort aus? Schon wieder ein wenig 
anders: Wieder sind neue, unerhörte Töne bis in die entlegene Ein¬ 
samkeit dieses Tales gedrungen; denn von dem Haupttale aus, in das 
es mündet, — wie sein Bach einläuft in das Flüßchen, das sich dort
	        
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