Full text: [Teil 6 = Obertertia - Untersekunda, [Schülerband]] (Teil 6 = Obertertia - Untersekunda, [Schülerband])

III. H>agen. 
27. Die Gralsage. 
A. F. C. Vilmar. Geschichte der deutschen Nationalliteratur. Marburg. 
Tief in den Jdeeen des urältesten Heidentums, in den Mythen 
Hindostans, wurzelt die Sage von einer Stätte auf der Erde, die — 
nicht berührt von dem Mangel und Kummer, von der Not und Angst 
dieses Lebens — des mühelosen Genusses und der ungetrübten Freude 
reiche Fülle dem gewähre, der dorthin gelange; von einer Stätte, 
wo die Wünsche schweigen, weil sie befriedigt, und die Hoffnungen ruhen, 
weil sie erfüllt sind; von einer Stätte, wo des Wissens Durst gestillt 
wird und der Friede der Seele keine Anfechtung erleidet. Es ist die 
Sage vom irdischen Paradiese, die sich abspiegelt in den Göttermahl¬ 
zeiten und Sonnentischen der frommen Äthiopen, von denen Homer und 
Herodot erzählen, wie in dem seligen, von süßem Vogelgesange und leisem 
Bienensummen durchtönten Haine Cridavana im Sitantagebirge, von dem 
das Hinduvolk zu sagen weiß als der stillen Heimat aller Weisheit und 
alles Friedens. Als das Paradies im Bewußtsein der spätern, stets 
mehr an ihrem Gott und sich selbst irre werdenden Menschheit immer 
tiefer zurücktrat, blieb nur noch ein Edelstein des Paradieses, gleichsam 
eine heilige Reliquie, doch mit Paradieseskräften ausgestattet, auf der 
Erde zurück, der bald, wie der Hermesbecher der Dionysusmysterien, als 
köstliche Schale gedacht wurde, aus der die goldnen Himmelsgaben 
sich noch in später Zeit, wie in der entschwundenen glücklichern, reichlich 
ergössen, bald als Heiligtum^ als sichtbarer Arm Gottes auf Erden, 
einen eigenen unverletzlichen, das Paradies auf Erden sinnbildlich dar¬ 
stellenden Tempel erhielt, wie die Kaaba zu Mekka. Spielen doch in 
die Märchen unserer Kindheit noch herein die Träume von dem sich 
selbst mit Früchten und Fleisch deckenden Sonnentische der Äthiopen, 
— ist doch unser „Tischchen, deck dich" nur die letzte, in menschlicher 
Weise dunkle Ahnung der Paradieseszeit, die wir mit unseren fernen 
Stammesverwandten in Indiens Bergen teilen; ist doch das Streben 
nach dem Stein der Weisen das irdische, nie gestillte Suchen nach jenem 
verlorenen Edelstein des Paradieses.
	        
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