Full text: [Teil 6 = Obertertia - Untersekunda, [Schülerband]] (Teil 6 = Obertertia - Untersekunda, [Schülerband])

Goethe: Frankfurt in der Jugend Goethes. 
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erlangen suchten. Der Kaiser, der ihrer bedurfte, erteilte eine solche 
Freiheit, da wo es von ihm abhing, gewöhnlich aber nur auf ein Jahr, 
und sie mußte daher jährlich erneuert werden. Dies geschah durch 
symbolische Gaben, welche dem kaiserlichen Schultheißen, der auch wohl 
gelegentlich Oberzöllner sein konnte, vor Eintritt der Bartholomäimesse 
gebracht wurden, und zwar des Anstands wegen, wenn er mit den Schöffen 
zu Gericht saß. Als der Schultheiß späterhin nicht mehr vom Kaiser 
gesetzt, sondern von der Stadt selbst gewählt wurde, behielt er doch diese 
Vorrechte, und sowohl die Zollfreiheiten der Städte als die Zeremonien, 
womit die Abgeordneten von Worms, Nürnberg und Alt-Bamberg diese 
uralte Vergünstigung anerkannten, waren bis auf unsere Zeiten ge¬ 
kommen. Den Tag vor Mariä Geburt ward ein öffentlicher Gerichtstag 
angekündigt. In dem großen Kaisersaale, in einem umschrünkten Raume, 
saßen erhöht die Schöffen und eine Stufe höher der Schultheiß in ihrer 
Mitte; die von den Parteien bevollmächtigten Prokuratoren unten zur 
rechten Seite. Der Aktuarius fängt an, die auf diesen Tag gesparten 
wichtigen Urteile laut vorzulesen; die Prokuratoren bitten um Abschrift, 
appellieren, oder was sie sonst zu tun nötig finden. 
Auf einmal meldet eine wunderliche Musik gleichsam die Ankunft 
voriger Jahrhunderte. Es sind drei Pfeifer, deren einer eine alte Schal¬ 
mei, der andere einen Baß, der dritte einen Pommer oder Hoboe bläst. 
Sie tragen blaue, mit Gold verbrämte Mäntel, auf den Ärmeln die 
Noten befestigt, und haben das Haupt bedeckt. So waren sie aus ihrem 
Gasthause, die Gesandten und ihre Begleitung hinterdrein, Punkt zehn 
ausgezogen, von Einheimischen und Fremden angestaunt, und so treten 
sie in den Saal. Die Gerichtsverhandlungen halten inne, Pfeifer und 
Begleitung bleiben vor den Schranken, der Abgesandte tritt hinein und 
stellt sich dem Schultheißen gegeniiber. Die symbolischen Gaben, welche 
auf das genaueste nach dein alten Herkommen gefordert wurden, bestanden 
gewöhnlich in solchen Waren, womit die darbringende Stadt vorzüglich 
zu handeln pflegte. Der Pfeffer galt gleichsam für alle Waren, und so 
brachte auch hier der Abgesandte einen schön gedrechselten hölzernen 
Pokal mit Pfeffer angefüllt. Über demselben lagen ein Paar Hand¬ 
schuhe, wundersam geschlitzt, mit Seide besteppt und beguastet, als Zeichen 
einer gestatteten und angenommenen Vergünstigung, dessen sich auch wohl 
der Kaiser selbst in gewissen Fällen bediente. Daneben sah man ein 
weißes Stäbchen, welches vormals bei gesetzlichen und gerichtlichen Hand¬ 
lungen nicht leicht fehlen durfte. Es waren noch einige kleine Silber¬ 
münzen hinzugefügt, und die Stadt Worms brachte einen alten Filzhut, 
den sie immer wieder einlöste, so daß derselbe viele Jahre ein Zeuge dieser 
Zeremonien gewesen. 
Nachdem der Gesandte seine Anrede gehalten, das Geschenk abge-
	        
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