Full text: [Teil 6 = Obertertia - Untersekunda, [Schülerband]] (Teil 6 = Obertertia - Untersekunda, [Schülerband])

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I. Erzählungen, Beschreibungen it. s. w. 
Schwindt und Richter alles Geschaffene und suchten es doch mit Ge¬ 
träumtem, Ersehntem in Verbindung zu bringen. Aber das Verlangen, 
Sinnliches mit Geistigem, das Geringe mit dem Höchsten in Ver¬ 
bindung zu bringen, deckt auch immer den Zwiespalt auf, der zwischen 
allem Endlichen und Unendlichen liegt, — und hinter dem höchsten Glücks¬ 
gefühl, in der Lust an dem Irdischen lauert der Schmerz, die Trauer. 
Schweift so unser Verlangen und unser Geist ins Unendliche, so 
sucht er dann desto lieber in der Enge wieder seine Ruhe. Und welche 
Enge umfängt ihn lieber als die Enge und Stille des Hauses? Hier, 
im Leben mit seiner Familie, in seinem Heim hat der Deutsche immer 
wieder Kraft zum neuen Wirken nach außen gefunden. Nach dem Ideal 
seines Familienlebens wurde er in der Fremde beurteilt, um das wurde 
er beneidet. Auf es durfte er stolz sein, und wieder und wieder haben 
auch die deutschen Maler versucht, dieses Glück des Lebens in ihren Bildern 
festzuhalten. 
j(3, Der Balwierer phrastes. 
Heinrich Hansjakob. Ausgewählte Schriften. Kassel. 
Im Hause meines Vetters Eduard, des Kastenvogts, der nicht bloß 
zeitweilig, wie mein Vater Philipp, sondern allezeit und unter jeder 
Form für Humor empfänglich war, fand jeden Sonntag, wenn die Früh¬ 
messe aus war, eine Zusammenkunft statt, die bis gegen Mittag dauerte 
und den Zweck hatte, sich möglichst gut zu unterhalten. Es waren zu 
jener Zeit, Mitte der vierziger Jahre, immer die gleichen, die sich hier 
Rendez-vous gaben: Der Kapuziner-Pater Leopold, der Bergfidele, der 
Sommerhalde-Bur, der Katzenkrämer, der Wendel — lauter Original¬ 
menschen — und unter ihnen auch der Rasierer Pfaff, vulgo Phrastes. 
Dieser hatte im Haslacher Kapuzinerkloster seine Studien gemacht, auf 
der Universität Freiburg chirurgische Vorlesungen „genossen" und sprach 
deshalb, wenn es galt, äußerst gelehrt. Sein Ideal, dem er bei jeder 
Gelegenheit die höchsten Lobsprüche weihte, war der bekannte Heilkünstler 
des sechzehnten Jahrhunderts, Philippus Aureolus Theophrastus Bombastus 
Paracelsus ab Hohenheim, dessen Namen er stets alle nannte, so oft er 
von ihm sprach. Ja, er gab es auch den Haslachern als Sprachübung 
auf, sie alle ohne Anstoß sagen zu können. Diese merkten sich aber bloß 
den Theophrastus und gaben dem Rasierer selbst den abgekürzten Spitz¬ 
namen „Phrastes". 
Der Phrastes trug stets einen frackartigen Rock, dessen Enden bis auf 
die Absätze seiner Schnallenschuhe hingen. Dieser Riesenfrack hatte hinten 
zwei ihm entsprechende Taschen, aus deren einer eine mächtige, messingene 
Rasierschüssel herausschaute, während die andere den Streichriemen und
	        
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