Full text: Für die Mittelstufe (Klasse III - I der Realschulen) (Gedichtsammlung, [Schülerband])

62 Aus dem Nibelungenlied. 
5. Den Schild ließ er fallen; riesig wuchs ihm Kraft: 
mit den Armen hielt er Hagen fest in Haft. 
So kam es, daß den Kühnen er gefangen nahm: 
das gab dem edlen Gunther bittre Traurigkeit und Gram. 
6. Gebunden führt' ihn Dietrich, wo er harrend fand 
die erlauchte Fürstin, und gab in ihre Hand 
der Recken allerbesten, den je ein Schwert geschmückt. 
Nach ihrem tiefen Leide ward sie endlich hochbeglückt. 
7. Tief neigte sich vor Dank ihm das königliche Weib: 
„Immer hochbegnadet sei dir Herz und Leib! 
Du hast mich reich entschädigt nach bittrer Leidenszeit. 
Hindert mich der Tod nicht, vergelt' ich dir's in Ewigkeit.“ 
8. Da sprach der Herr Dietrich: „Edle Fürstin, doch 
schonet seines Lebens! Ach, geschäh' es noch, 
daß er Euch ersetzte, was er an Euch verbrach! 
Nicht laßt es ihn entgelten, daß er gebunden steht in Schmach!“ 
9. Fort ließ sie Hagen führen. Schlimm erging's ihm da, 
wo er lag gefangen und wo ihn niemand sah. 
Doch der edle König Gunther rief derweil: 
„Wo blieb der Held von Berne? Weh, er schuf mir böses Heil!“ 
10. Da ging ihm rasch entgegen Dietrich der kühne Held. 
Gunther bald bewährte seine Kraft im Feld. 
Er harrte nicht länger, er stürmte vor den Saal: 
zu mächtigem Tosen klirrte rasselnd Stahl auf Stahl. 
11. Wie groß und wie gewaltig war ihrer Stärke Sturm! 
Von ihren Schlägen schollen zurück Palast und Turm, 
als ihrer Schwerter Machthieb auf den Helmen klang. 
König Gunthers Kampfmut wuchs in grimmem Waffengang. 
12. Und doch zwang der von Bern ihn, wie Hagen jüngst geschah. 
Das Blut man durch die Ringe dem Helden fließen sah 
vor dem mächt'gen Schwerte, das Dietrich führt' im Streit. 
Doch mutig hatte Gunther gekämpft trotz aller Mattigkeit. 
13. Es nahm von Berne Dietrich Gunthern bei der Hand, 
er führt' ihn hin gebunden, wo Kriemhild sich befand. 
„Willkommen, edler König!“ so sprach sie da mit Spott. 
„Heißt Ihr mich gern willkommen, Kriemhild, nun, Euch lohn' es Gott! 
14. Gern würd' ich mich Euch neigen, liebe Schwester mein, 
möchte Euer Gruß nur liebevoller sein! 
Ich weiß, daß Ihr schweres Zornes Euch befleißt 
und mich sowie auch Hagen ungern hier willkommen heißt.“
	        
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