Full text: Deutsches Lesebuch für die mittleren Classen höherer Lehranstalten

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Beschreibende Prosa. 
schließung des Friedens mit seiner Mutter, 
und ward auf deren Fürwort Cardinal. 
Einer größern Theilnahme an den Staats— 
angelegenheiten widersetzten sich nicht nur die 
andern, seine Ueberlegenheit und seinen Ehr⸗ 
geiz füͤrchtenden Minister, sondern selbst der 
Konig, welcher äußerte: „Dieser Mensch möchte 
gern Zutritt zu meinem Staatsrath haben; 
aber nach dem Allen, was er gegen mich 
gethan, kann ich mich nicht dazu entschließen.“ 
Dennoch geschah dies endlich, weil kein 
anderer kraäftiger Mensch da war, der die 
Staatsangelegenheiten mit Erfolg leiten konnte. 
Am 29. Äpril 1624 ward er in den Staats⸗ 
rath eingefuͤhrt, und der Minister Vieuville 
entlassen, weil er nicht fähig war, „slatt des 
Königs, mit Verstand und Rachdruck zu herr— 
schen.“ Bereits nach wenig Monaten löste 
Richelieu diese Aufgabe mit einer solchen 
Kraft, daß ein Schriftsteller sagt: „Der 
Cardinal machte Alles; ohne ihn verordneten 
die Behörden nichts; ohne seine Bestimmung 
athmeten König und Königin nicht.“ Wie 
hiel er that und nach welchen Grundsätzen 
Und Ansichten er handelte, darüber hat er 
selbst sich in seinen Denkwürdigkeiten und 
seinem politischen Testamente so klar und 
pollständig ausgesprochen. daß zu seiner 
Charakteristik nur noch Weniges zu sagen 
übrig bleibt. 
Viele haben ihn gehaßt, Keiner hat ihn 
verachtet; fast immer ging indeß jener Haß 
aus perfönlichen Gründen hervor, und je 
naher man die Umstände kennen lernt, desto 
mehr schwinden die in Bezug auf einzelne 
Maßregeln und Ereignisse ausgesprochenen Ur— 
theile. Nicht zu gedenken, daß er, bei aller 
Macht, nach seinen eigenen Worten, oft von 
vier Vorschlägen kaum zwei durchsetzte, leidet es 
lkeinen Zweifel, daß er nach so langen Unordnun⸗ 
gen und buͤrgerlichen Kriegen, nicht mit bloß 
milden Millein zum Ziele gelangen konnte. 
Bis dahin war das Volk, ja der König, 
vom Adel und von den Prinzen tyrannisirt 
erden Richeliews Sirenge iraf mit Recht 
einige Hochgestellte; aber das von jener 
Tyrannei befreite Volt lebte unter seiner 
Herrschaft in einer Ruhe und Sicherheit, 
alche viele Lander Europas damals nicht 
kannten. „Ich bin,“ soll Richelieu zu Vieu—⸗ 
ville gesagt haben, „von Natur furchtsam, 
und wage nichts zu unternehmen, was ich 
icht mehrere Male durchdacht habe; aber 
gach gefaßlem Entschlusse handle ich kühn, 
dringe zu meinem Ziele, werfe Alles zu Bo⸗ 
den, mache Alles nieder und bedecke dann 
Jegliches mit meinem rothen Mantel.“ Die 
Groͤße seines Geistes, den Scharfsinn seines 
Unhals die Ünerfhütlerlichteit seines Cha— 
alles hal Niemand geleugnet. — „Diesen 
großen Manne,“ äußert der Marschall Gassion 
war nichts unbekannt; und durch das Licht 
seiner natürlichen Gaben, so wie durch Be⸗ 
nuhung fremder, drang er bis in das Ver⸗ 
borgenste und entdedte die geheimsten Ge⸗ 
in der Menschen · — Mi seinem Auf 
treten schien ein neuer Geist, ein neues Leben 
in das sich bereits auflösende Frankreich 
kommen zu sein: „Denn,“ sagt Hugo 
Grotius (gewiß ein giltiger Richter), in einen 
Briese an (den schwedischen Canzler) Oren⸗ 
stierna, „er ist nicht bloß den Geschäften ge⸗ 
wachsen, sondern noch drüber.“ — Und diese 
Kraft des Charakters, diese Tiefe des Ver⸗ 
standes, diese, nach allen Seiten gerichtel 
Thaͤtigleit wohnte in einem schwachen, hin⸗ 
fälligen Körper. Durch sein äußeres Beneh 
en wuhle er bald zu schreden, bald mi 
invergleichlicher Anmuth einzunehmen. d 
Ueberlegenheit seines Geistes fühlend, wollt 
er gern durch Gründe leiten, ehe er Gewal 
brauchte; fand aber keineswegs immer eil 
günstiges Gehör. „Mein Glück,“ sagte Ri⸗ 
helieu, „besteht nicht in dem Unglücke An⸗ 
derer; vielmehr glaube ich, ohne Anmaßun 
behaupten zu dürfen, daß etwas Höheres und 
Tchligeres in mir ist.“ — „Maͤn haß! 
mich,“ spricht er an einer andern Stelle, 
„weil der König mich liebte; weil mir gegel 
fremde Rathschläge und Ansichten so Viele⸗ 
gelang; weil ich Wünsche, die dem allgemel⸗ 
nen Besten zuwiderliefen, nirgend berůcksich 
tigte; und vor Allem, weil ich die koͤniglicht 
Macht bestärkte, Alle zu Ordnung und Ge⸗ 
horsam zwang und der alten Willkür ein Ende 
machte.“ 
Tüchtige Feldherren belohnte er reichlich 
hielt sie aber in treuer Unterwürfigkeit. 
war der großmüthigste, treueste Freund, ver⸗ 
langte aber auch unbegrenzte Dankbarkeil 
und verzieh besonders da keine Untreue 
nnnas Whl des Stactes im Spit 
zu sein schien. „Üeberall,“ sagt ein klugel 
Berichterstatter, liebte und belohnte er die 
Tugend, wo sie ihm nicht zuwider war, und 
gebrauchte gern Leute von Verdiensten, wel 
hes veranlaßte, daß man sich bemuͤhte, dieß 
zu erwerben.“ — Frau von Matteville, sonst
	        
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