Full text: Deutsches Lesebuch für die mittleren Classen höherer Lehranstalten

Weil der Sommer Nahrung hat, 
Wurde sie auch täglich satt; 
Aber als der Winter kam 
Und der Flur das Leben nahm, 
Da treibt sie der Hunger hin 
10 Zu der Aemse: „Nachbarin 
Ich bin hungrig, gib mir doch 
Ein klein wenig nur zu leben! 
Deine Kammer hat ja noch 
Großen Vorrath, und ich will 
Alles ehrlich wiedergeben, 
Mit den Zinsen, im April.“ 
„Schwesterchen, wie brachtest Du 
Deine Zeit im Sommer zu?“ — 
„Nachbarin, Du weißt ja wohl, 
20 Ich, die Freundin vom Apoll, 
Sang beständig; hast Du mich 
Nicht vernommen? Und konnt' ich, 
Schwesterchen, was Bessres thun?“ — 
„Grillchen, nein; doch tanz' auch nun!“ 
Gleim. 
122. Die Fledermaus. 
1 Die Fledermaus rief: „O Wiesel! 
Vor Aengsten ergreift mich ein Friesel. 
Dir bin ich kein würdiger Schmaus, 
Ich bin ja nicht Vogel, nur — Maus!“— 
Großmüthig sagte das Wiesel: 
„Die Maͤusart, wahrlich, ist neu; 
Doch hab' ich kein Herz von Kiesel!“ 
Und ließ die Fledermaus frei. 
2 Die Fledermaus rieß: „O Schuhu, 
Verschone mich, edler Uhu! 
Dir bin ich kein würdiger Schmaus. 
Ich bin ja ein Vogel, nicht Maus!“ — 
„Gi!“ sprach der Tyrann der Mäuse, 
„Die Vogelart ist mir neu! 
Doch entflieg' aus unserem Kreise!“ 
Und ließ die Fledermaus frei. 
3 Die Fledermaus rief: ‚O Kaye! 
Laß ab von mir seltenstem Schatze, 
Dem Adler dien' ich zum Schmaus; 
Zugleich bin ich Vogel und Maus!“ — 
Wahler, Du solst, mir verderben, 
Nicht umsonst hab ich Dich erzielt! 
Auch möge Jeber so sterben, 
Der zweierler Rollen spielt!“ Gaug. 
123. Das Feuerwerh. 
1 Viel tausend Sterne prangen 
Am Himmel still und schön, 
Fabeln. 
Und wecken mein Verlangen, 
Hinaus in's Feld zu gehn. 
Ihr ewig schönen Sterne, 
In ewig gleichem Lauf, 
Wie blick ich stets so gerne 
Zu Eurem Glanz hinauf! 
2 Doch horch, was schallt für ein Ton in 
mein Ohr? 
Doch sieh, was hebt für ein Licht sich empor? 
Was fliegen zum Himmel für leuchtende 
Flammen! 
kämpfende Gluthen zu— 
sammen? 
Was sprühen für glühende Funken umher? 
Was saust in der Luft für ein brausendes 
Wehr? [gonnen: 
3 Ein prachtvoll künstlich Spiel hat be— 
Es drehen im Kreise sich strahlende Sonnen; 
Es leuchten, wie Monde, in silberner Pracht 
Hell glänzende Kugeln im Dunkel der Nacht; 
Es wachsen in wunderbar wechselnden Farben 
Aus kaltem Boden viel feurige Garben; 
Es schleudern die Schwärmer in taumelnder 
Wuth 
Nach allen Seiten die donnernde Gluth; 
Es zischen und rasen empor die Raketen, 
Zu löschen den schimmernden Schweif des Ko— 
meten. 
Stolz aufgerichtete Schlangen, sie spei'n 
Hell loderndes Feu'r in den Himmel hinein, 
Ünd zitternd kommen dann Heere von Funken 
Wie fallende Sterne zur Erde gesunken. 
4 Und wechselnd wecken den Wiederhall 
Kanonendonner und Paukenschall, 
Und laut in die ernsten und lustigen Klänge 
Ertönet das Jauchzen der staunenden Menge. 
Am Himmel das siegend beschämte Heer 
Der schweigenden Sterne sieht Niemand mehr 
Doch, stolz auf errungenen Lorbeer, schreitet 
Der Künsiler daher, der das Alles bereitet, 
Und Tausende huldigen, fröhlich und frei, 
Dem Helden des Tages mit Jubelgeschrei. 
5 Aber aus ist schnell das schöne, 
Angestaunte Feuerspiel! 
Stumm sind schon die Jubeltöne; 
Kurz war dieser Feier Ziel. 
6 Und der Held, der stolz entzündet 
Tausend heller Flammen Pracht, 
Geht von dannen, und verschwindet 
Still im Dunkel stiller Nacht. 
7 Von den stolzen Meteoren 
Nirgens mehr die lleinste Spur, 
Denn ein flüchtig Spiel der Horen 
War ihr flücht'ger Schimmer nur. 
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